Niger

Vier Menschen, vier Lebensalter, vier Beziehungen zum größten Fluss Westafrikas: Ein Kind erkundet seine Magie; eine junge Fischerfrau macht Urlaub vom Fluss; eine Architektin baut sich ein Haus am Wasser; eine greise Demonstrantin blickt zurück

  Spiel

Lansé Kanté, sieben Jahre, weiß: Es gibt Dinge, die man nicht sehen kann, und trotzdem sind sie da. Zum Beispiel das alte Krokodil. Seit 20 Jahren hat es niemand gesehen, aber alle, die in Kouroussa am Fluss wohnen, wissen, dass es da ist. Unter der rostigen Eisenbahnbrücke verbirgt es sich, sechs Meter lang, in einer tiefen Mulde des Stroms.

Lansés Welt im Herzen Guineas ist Geheimnis, Gefahr und Versprechen. Drei Orte markieren ihre Grenze: die Eisenbahnbrücke, ein vom Blitz gefällter Baobab und sein Zuhause. Hindurch fließt der Niger.

Die Eisenbahnbrücke. Vor 60 Jahren verließ Westafrikas berühmtestes Kind, der Literat Camara Laye, über diese Brücke seinen Geburtsort Kouroussa, um in der fernen Hauptstadt aufs Gymnasium zu gehen. Heute ist die Schmalspurbahn aus dem Jahr 1914 ausrangiert, die Brücke modert, dafür gibt es ein Lycée. „Das schwarze Kind“, Layes Autobiografie, ist Pflichtlektüre in Guineas Schulen. Auch Lansés geliebter 14-jähriger Cousin Damany hat einen Abschnitt daraus in einer antiquierten französischen Handschrift in sein Schulheft kopiert.

Manchmal begleitet Damany seinen Schützling auf die Brücke. Dann sitzen sie nebeneinander auf der morschen Kante, vier rissige Füße baumeln im Nichts. Hände unter Kniekehlen und bedenklich weit vorgebeugt, fixiert Lansé sogleich die Stelle, wo das Krokodil lebt. Damany übt derweil an ihm Französisch vorlesen, das der Kleine nicht versteht. Lansé möchte auch zur Schule gehen. Er ist das älteste Kind und eben ein Junge, und eine gebrauchte khakifarbene Uniform hätte er schon. Die Voraussetzungen sind gut.

Der Fluss. Ungezählte Quellen im bergigen Regenwald zwischen Guinea und Sierra Leone sind zu einem schmalen Strom gewachsen, der die Menschen in der Ebene Oberguineas nährt. Sie pflanzen Hirse, Mais, Erdnüsse, Maniok, Reis. Lansé interessiert nur, was der Niger in sich trägt: Karpfen, Welse, Krokodile, Wasserschlangen. Als Schwimmer und Fischer durchmisst er mit seinen Freunden den Fluss, niemals jedoch schwimmen sie zu nah an die Brücke, an die Wohnung des Krokodils, heran. Obwohl es gutmütig ist, denn es steht im Bann des menschenfreundlichen Geistes Koundawodia. Aber sicher ist sicher.

Der Baobab. „Er war der Lieblingsbaum Gottes im Paradies. Eines Tages fiel er um und durch ein Himmelsloch. So rumste er in die Erde. Darum ist seine Baumkrone vergraben, und die Wurzeln zeigen nach oben.“ Was geschah, als der Baobab, der an Lansés Fußballplatz stand, vom Blitz getroffen wurde? „Ich glaube, Gott wollte ihn sich wiederholen, aber er war nicht stark genug.“ Gott hat den halb ausgerissenen Baum leider mitten in den Bolzplatz fallen lassen. Lansé und seine Freunde, in kurzen staubigen Hosen und mit den knubbeligen Knien wachsender Kinder, üben jetzt mehr Dribbeln und anderen Ballzauber.

Der Fluss. Die beste Zeit für Lansé, das Innere des Niger zu erkunden, ist nach dem großen Regen. Dann verjüngt sich der ausufernde Strom zu einem kristallenen Band von 30 Metern und fließt kaum merklich unter einer Oberfläche wie gespanntes Seidentuch. Wenn der Harmattan im Dezember einsetzt, ist es vorbei: Der Nordostpassat füllt Augen, Ohren, Nasen, und auch den Fluss, mit dem Sand der Sahara und macht ihn für forschende Kinderblicke undurchdringbar.

Zu Hause. In einem der weißen, strohgedeckten Rundhäuser aus Lehm oder im kieselbedeckten Hof findet man Lansé nur zum Essen, Schlafen und wenn er helfen muss, etwa Reis stampfen oder Wasser holen. Und zur Dämmerung, wenn das Klopfen der Schmiede verklingt und es Zeit für Geschichten ist. Dann sitzen die Alten vorm Haus und erzählen. Von den Taten des Urgroßvaters, der von allen der mutigste Fischer war, von den Geistern Koundawodia und Koukobamene, die um die Vorherrschaft am Fluss kämpften. Dann zupft und zappelt das Kind noch eine Weile, aber bald bewegen sich nur mehr die dunklen Knopfaugen zwischen den Erzählenden und einem Punkt in der Unendlichkeit hin und her.

Lansé Kanté, sieben Jahre, weiß genau: Der Fluss wird ihn einmal forttragen. Ganz weit fort, bis Sando. Das ist eine Sandbank zehn Kilometer flussabwärts, wo Fischer in der Trockensaison ihre Zelte aufschlagen. Was er sein wird, wenn er groß ist? Wie der Vater ein Fischer und wie der Urgroßvater ein Held.

 Lohn

Mariam Karabinta, 19 Jahre, Fischerfrau im Babyurlaub, hat herrliche Füße. Mit Henna hat sie ihre Fußsohlen schwarz gefärbt und die Spitze der Zehen. Auf den Nägeln blättert der Glanz von rosa Lack. Für das Fest heute Abend wird sie eine neue Schicht auftragen.

Sengende Mittagsluft dehnt die Gemäuer am Rand Kirangos, 300 Kilometer flussabwärts von Malis Hauptstadt Bamako. Mariam sitzt auf einem niedrigen Schemel im Schatten des Hofs und stupst ihren kleinen Finger in die Wange des 22 Tage alten Kindes auf ihrem Schoß, bis es gluckst. Eine schläfrige Sinnlichkeit liegt in ihren Bewegungen, in ihrer weichen, tanzenden Stimme, die sie sparsam gebraucht.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 37. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 37

No. 37April / Mai 2003

Vier Porträts von Judith Reker

Judith Reker studierte in England und Ägypten Arabistik, Judaistik und Geschichte. Nach längeren Aufenthalten in Kenia und der Republik Kongo lebt sie als freie Afrika-Korrespondentin in Johannesburg (Südafrika).

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Vita Judith Reker studierte in England und Ägypten Arabistik, Judaistik und Geschichte. Nach längeren Aufenthalten in Kenia und der Republik Kongo lebt sie als freie Afrika-Korrespondentin in Johannesburg (Südafrika).
Person Vier Porträts von Judith Reker
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