Nicolas de Staël – zwischen Himmel und Meer

Kaum ein Künstler hat sich intensiver mit dem Mittelmeer beschäftigt als der Franko-Balte de Staël. Sein beschwerliches Ringen mit Abstraktion und Figuration gilt heutigen Malern als wegweisend

Nicolas de Staël lebte ein kurzes, leidenschaftliches Leben als Maler. In seinen Bildern porträtierte er das Mittelmeer, die Menschen, das Licht. Immer auf der Suche nach einer Position zwischen Figuration und Abstraktion. Porträt eines Unterschätzten.

Der 16. März 1955 brachte endlich Frieden für den Maler Nicolas de Staël. Gegen Mitternacht trat er auf die Terrasse seines Ateliers in Antibes an der Promenade d’Amiral de Grasse, ein letztes Mal atmete er die salzige Seeluft und hörte das Rauschen der Wellen. Unweit seines Ateliers thronte das Fort Carré, die Festung über dem Hafen der Stadt. Er hatte sie oft gemalt, sie erinnerte ihn an seine Kindheit in Sankt Petersburg. Das tiefe Blau des nächtlichen Himmels ließ nur ihre Konturen hervortreten. Jetzt umhüllte es auch de Staël, und irgendwann vermischte es sich mit dem grauen Pflaster der Straße.

Am Morgen fanden ihn Nachbarn auf dem Weg entlang der Wälle von Antibes, zusammengekrümmt, regungslos, sein Gesicht war eigentümlich friedlich. Die Reise des Nicolas de Staël war an ihr Ende gekommen, seine rastlose Suche vorbei, der Kampf mit dem Engel ausgefochten. Nur 41 Jahre währte die physische Existenz von de Staël, nur knapp 15 Jahre seine Existenz als Künstler. Ein kurzes, leidenschaftliches Leben, erfüllt vom Gedanken, den verloren gegangenen Ort der abstrakten Malerei in seinen Bildern wieder sichtbar zu machen. Schließlich vermochte er ihn selbst dort nicht mehr zu suchen, wo er ihn immer wieder gefunden hatte: im Licht des Meeres an der Côte d’Azur.

Dennoch war Nicolas de Staël der Maler des Mittelmeers. In unzähligen Gemälden hat er es porträtiert, seinen Charakter, seine Menschen, sein Licht. So in „Ciel et mer“, das den Betrachter einsam stimmt, trotz seines freundlichen Azur, so in „Grand nu orange“, was das sinnenfrohe mediterrane Leben widerspiegelt, so in „Les Mâts“, in dem Schiffe in gleißender Sonne zu verschwinden scheinen: In seinen verschiedenen Blautönen, die von Weiß und Gelb gebrochen werden, ist es wie viele andere eine Hommage an das Mittelländische Meer – und ein Zeugnis für das verzweifelte Ringen des Künstlers zwischen Figur und Abstraktion. „Was ich versuche“, schrieb er im Dezember 1954 an seinen Freund, den Pariser Kunsthändler Jacques Dubourg, „ist eine fortlaufende Erneuerung, und sie ist schwierig. Meine Malerei mit ihrer Gewalt und ihren beständigen Kraftspielen ist eine zerbrechliche Sache. Wenn sie gelingt, fühle ich immer einen zu großen Anteil an Zufall, wie einen Schwindel, wie eine glückliche Fügung, die trotz allem ihr Gesicht bewahrt, und ihre falsche Virtuosität. Das macht mich mutlos.“

Mut, wenn nicht gar Lebensmut hatte de Staël auch etwas anderes genommen. Zwar feierte man ihn noch 1953 von New York bis San Francisco „als einen der wichtigsten abstrakten Maler seit dem Ende des Krieges“, zwar fanden seine Bilder dort ein begeistertes Publikum und verkauften sich zu Höchstpreisen, aber auf der anderen Seite des Atlantiks blieb ihm der Erfolg versagt. Außer wenigen Verehrern, zu denen auch Künstlerfreunde wie Georges Braques, Hans Arp oder Robert Delaunay gehörten, interessierte sich in Europa kaum jemand für die Malerei von de Staël. Mehr noch: Vielen gilt er bis heute als gefällig und oberflächlich, nicht zuletzt, weil er sich den abstrakten Dogmen verweigerte, die nach 1945 die europäische Malerei beherrschten, und er in seinen letzten Lebensjahren sogar wieder figurativ zu malen schien. Er war ein „Halbberühmter“, wie es der französische Kritiker André Chastel einmal ausdrückte, nicht angekommen in der europäischen Kunstwelt nach dem Zweiten Weltkrieg, isoliert, belächelt, ein Fremder – so als hätte er nie aufgehört, der Emigrant zu sein, zu dem er schon als Kind geworden war.

Nicolas de Staël wurde am 5. Januar 1914 in Sankt Petersburg geboren, als Sohn des Baron Wladimir Iwanowitsch Staël von Holstein, dem Vizegouverneur der Peter-Pauls-Festung und dessen Frau Ljubow Berednikowa. Die Staël von Holstein sind eine alte Familie, in Deutschland, Schweden und dem Baltikum verzweigt. Eine entfernte Verwandte des Malers erlangte im 19. Jahrhundert Berühmtheit, jene Schriftstellerin Madame de Staël, die mit Goethe korrespondierte.

Im Haus der Staël von Holstein herrscht die kultivierte Atmosphäre, wie sie für die russische Aristokratie typisch ist: Man musiziert, pflegt Poesie und Literatur, man spricht Französisch. Die Mutter von de Staël malt selbst Aquarelle – schon früh führt sie den kleinen Kolja in die Welt der Kunst ein. Doch im Februar 1917 bricht in Russland die Revolution aus, der Vater wird als zaristischer General verfolgt. Fast drei Jahre lang muss sich die Familie in Sankt Petersburg verstecken. Schließlich flieht sie 1919 nach Polen: in einer Kutsche, vorbei an einem wütenden Mob, brennenden Barrikaden und aufgepflanzten Bajonetten. Nicolas de Staël sollte sich später immer wieder dieser Szene erinnern, wie ihn überhaupt die frühe Unruhe sein Leben lang geprägt hatte – das unbestimmte Gefühl, nirgendwo auf sicherem Grund zu stehen. Umso mehr, als den kleinen Nicolas weitere Schicksalsschläge ereilen: 1921 stirbt der Vater, einige Monate später auch die Mutter. Ein Freund der Familie, Emmanuel Fricero, russischer Unternehmer in Brüssel, nimmt ihn und seine zwei Schwestern daraufhin auf – für die Kinder ist es eine Erlösung.


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mare No. 77

No. 77Dezember 2009/ Januar 2010

Von Michael Böhm

Michael Böhm, Jahrgang 1969, wuchs in Dresden auf und lebt als freier Publizist in Berlin. Unter anderem schreibt er Essays für Du – Das europäische Kulturmagazin. Sein erstes Gemälde von de Staël hatte ihm ein französischer Sammler gezeigt – seitdem träumt er davon, ein Original zu besitzen. Wir danken Madame Françoise de Staël und der Galerie Jeanne Bucher für ihre Unterstützung.

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Vita Michael Böhm, Jahrgang 1969, wuchs in Dresden auf und lebt als freier Publizist in Berlin. Unter anderem schreibt er Essays für Du – Das europäische Kulturmagazin. Sein erstes Gemälde von de Staël hatte ihm ein französischer Sammler gezeigt – seitdem träumt er davon, ein Original zu besitzen. Wir danken Madame Françoise de Staël und der Galerie Jeanne Bucher für ihre Unterstützung.
Person Von Michael Böhm
Vita Michael Böhm, Jahrgang 1969, wuchs in Dresden auf und lebt als freier Publizist in Berlin. Unter anderem schreibt er Essays für Du – Das europäische Kulturmagazin. Sein erstes Gemälde von de Staël hatte ihm ein französischer Sammler gezeigt – seitdem träumt er davon, ein Original zu besitzen. Wir danken Madame Françoise de Staël und der Galerie Jeanne Bucher für ihre Unterstützung.
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