„Nichts ist hier natürlich“

Bürgermeister Massimo Cacciari über unsicheren Boden, die Postmoderne und seinen „Archipel Europa“

mare: Venedig ist eine fragile Stadt, eine Stadt mit großer Vergangenheit und einer weit weniger großen Gegenwart. Hat Venedig eine Zukunft?

Venedig ist eine schwer gestrafte Stadt. Im Zeitalter der Moderne hat sie es äußerst schwer gehabt, sich zu behaupten und ihren Platz zu finden, weil sie keine moderne Stadt ist. Venedig ist von alten Bindungen und neuen Problemen geprägt. Die Großindustrie vor den Toren des lagunaren Venedigs, der Massenverkehr, der prekäre Zustand der Kanäle und Wasserstraßen: überall vor allem Probleme. Sie sind mit den Mitteln der klassischen Moderne nicht zu lösen. Ich glaube jedoch, dass Venedig in der Postmoderne – im kommenden Zeitalter also, in dem die Produktion materieller Güter nicht mehr bestimmend sein wird – einen außergewöhnlichen Aufschwung nehmen könnte.

Das Meer war Venedigs Reichtum, aber auch sein größter Feind. Was bedeutet das Meer für Venedig? Und was bedeutet es für Sie?

So ist das nicht. Venedig hat vom Meer gelebt, hat es aber – trotz aller Gefahren, die von ihm drohten – nie als Feind gesehen, sondern als geliebtes Wesen. Die für Venedig über viele Jahrhunderte hinweg wichtigste Zeremonie war die jährlich inszenierte Vermählung mit dem Meer, die auf zahllosen Werken bekannter Maler dargestellt ist. Die Vermählung hatte durchaus religiösen Charakter, sie drückte so etwas wie eine zivile Religion aus, der die Stadt mit Leidenschaft anhing. Es ist deshalb übrigens alles andere als ein Zufall, dass Venedig mehr als alle anderen Stadtstaaten Italiens stets ein distanziertes und oft gespanntes Verhältnis zum Heiligen Stuhl unterhielt.
Mit Vermählung, Ehe, war natürlich kein konfliktfreies Verhältnis gemeint. Venedig litt auch unter dem Meer, das es wollte und brauchte. Und natürlich musste sich Venedig immer auch gegen das Meer verteidigen – keine andere Stadt hat eine solche Fantasie wie Venedig dabei entwickelt, sich durch verschiedenste Baumaßnahmen und durch einen intelligenten Umgang mit Winden und Strömungen vor dem Meer zu schützen. Dennoch: An erster Stelle steht die Vermählung, steht die Harmonie.

Venedig stellt eine absolute Ausnahme dar: Während andere Städte auf festem Boden gründen und wenigstens von dieser territorialen Sicherheit ausgehen können, steht Venedig auf unsicherem Boden.

Nichts spricht dafür, dass es Venedig geben könnte. Venedig ist eine vollkommen unwahrscheinliche, eine ganz und gar künstliche, artifizielle Stadt. Venedig ist die einzige Stadt der Welt, in der sogar der Boden, auf dem sie steht, künstlich geschaffen ist. Die Basis der Stadt ist ein Kunstwerk. Nichts ist hier natürlich, alles ist Kunst. Venedigs Unwahrscheinlichkeit, Venedigs ständige Gebrechlichkeit macht zugleich seine Stärke aus. Es gibt keinen festen Boden, keine Gewissheit, auf die Venedig gründen könnte.
Genau das macht aber auch die Größe Venedigs aus: Ausgerechnet die Stadt, die gewissermaßen meergeboren und den Elementen ausgeliefert ist, ist zugleich ganz und gar ein Produkt menschlicher Fantasie, Erfindungskraft und Entschlossenheit, allen natürlichen Widerständen zu trotzen. Venedig ist qua Existenz ein technisches Meisterwerk, es ist höchster Ausdruck unserer Möglichkeiten, unserer geistigen Potenz. Venedig ist schwach, weil ihm das natürliche Fundament fehlt. Und Venedig ist stark, weil es ein wunderbarer Ausdruck menschlicher Kreativität ist – einer Kreativität, die Technik und Kunst, Ingenieurswissen und politische Philosophie verbindet.

In seinem berühmten Fantasiebuch „Die unsichtbaren Städte“ entwirft der Schriftsteller Italo Calvino ein Panorama möglicher, virtueller Städte. Eine von ihnen heißt Despina, und es zeichnet sie aus, dass sie gewissermaßen an der Schnittstelle zweier Wüsten liegt, der einen aus Sand und der anderen aus Wasser. Die Geschichte endet so: „Jede Stadt bekommt ihre Form von der Wüste, der sie sich entgegenstellt, und so sehen Kameltreiber und Matrose Despina, die Grenzstadt zwischen den Wüsten.“ Hat Calvino damit indirekt auch Venedig charakterisiert?

Nein, in keiner Hinsicht. Denn weder das Meer, dem sich Venedig gegenübersieht, noch das Hinterland, die „terraferma“, haben auch nur im Entferntesten etwas von Wüste an sich, sind geradezu das Gegenteil davon. Das venezianische Meer, das adriatische Meer ist ein randvoll bevölkertes Meer. Es ist von einer Vielzahl von Arten, von Sprachen, von Inseln, von Namen, von Geschichten bevölkert, die alle anwesend sind ...

... beginnend mit der Geschichte des Odysseus.

Die Geschichte des Odysseus ist eine aus früher Zeit – eine Geschichte, die tausendfache Fortsetzungen und Folgen gefunden hat. Kein Venezianer könnte je auf die Idee kommen, den Pelagus, das Meer, als eine öde Gegend, als eine Wüste zu denken. Und was das Festland angeht: Lesen Sie nur Hofmannsthals „Sommerreise“, in der er auf geniale Weise beschreibt, wie man sich Venedig vom Land aus nähert. Ganz allmählich, ganz langsam nähert man sich – aus den Alpen kommend – Venedig, herabsinkend gewissermaßen.
Es heißt bei Hofmannsthal (liest vor): „Und dieses Land ist nur wie ein Altan, der hinabsieht auf das andere Land, auf das Land, das die Venezianer, von den Palästen ihrer tritonischen Stadt wie von hohen Schiffen hinüberblickend, ,das feste Land‘ nannten, auf das Land, das wie ein Mantel von den Hüften der Alpen niederschleift bis ans Meer.“ Nehmen Sie die berühmten Maler Venedigs aus dem 15. Jahrhundert, die Hofmannsthal ebenfalls erwähnt: Sie kommen aus der terraferma, die Namen selbst sagen es. Veronese aus Verona, Giorgione da Castelfranco aus Castelfranco, Cima di Conegliano aus Conegliano, Palma da Pordenone aus Pordenone, Tiziano da Cadore aus Cadore.


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mare No. 18

No. 18Februar / März 2000

Von Thomas Schmid

Massimo Cacciari ist seit 1993 Bürgermeister von Venedig. Als Professor für Ästhetik am Institut für Architektur der Universität Venedig schrieb er u. a. über Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt und Ernst Jünger. In den siebziger Jahren saß er als Vertreter der Kommunistischen Partei im Parlament in Rom. Seine Wahl in Venedig gewann er für das Bündnis „Il Ponte“, die Brücke. Seit 1999 ist er zudem für die Partei „I Democratici“ Mitglied des Europaparlaments.

Für mare sprach Thomas Schmid, 54, mit Cacciari. Schmid, Chefkorrespondent der Zeitung Die Welt, hat auch in Italien Essays und Analysen veröffentlicht. In mare No. 7 schrieb er über den Wandel des Begriffs „Freibeuter“. Schmid traf sich mit Cacciari in dessen Wohnung, die gut versteckt unweit eines prominenten Ortes in Venedig liegt.

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Vita Massimo Cacciari ist seit 1993 Bürgermeister von Venedig. Als Professor für Ästhetik am Institut für Architektur der Universität Venedig schrieb er u. a. über Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt und Ernst Jünger. In den siebziger Jahren saß er als Vertreter der Kommunistischen Partei im Parlament in Rom. Seine Wahl in Venedig gewann er für das Bündnis „Il Ponte“, die Brücke. Seit 1999 ist er zudem für die Partei „I Democratici“ Mitglied des Europaparlaments.

Für mare sprach Thomas Schmid, 54, mit Cacciari. Schmid, Chefkorrespondent der Zeitung Die Welt, hat auch in Italien Essays und Analysen veröffentlicht. In mare No. 7 schrieb er über den Wandel des Begriffs „Freibeuter“. Schmid traf sich mit Cacciari in dessen Wohnung, die gut versteckt unweit eines prominenten Ortes in Venedig liegt.
Person Von Thomas Schmid
Vita Massimo Cacciari ist seit 1993 Bürgermeister von Venedig. Als Professor für Ästhetik am Institut für Architektur der Universität Venedig schrieb er u. a. über Friedrich Nietzsche, Carl Schmitt und Ernst Jünger. In den siebziger Jahren saß er als Vertreter der Kommunistischen Partei im Parlament in Rom. Seine Wahl in Venedig gewann er für das Bündnis „Il Ponte“, die Brücke. Seit 1999 ist er zudem für die Partei „I Democratici“ Mitglied des Europaparlaments.

Für mare sprach Thomas Schmid, 54, mit Cacciari. Schmid, Chefkorrespondent der Zeitung Die Welt, hat auch in Italien Essays und Analysen veröffentlicht. In mare No. 7 schrieb er über den Wandel des Begriffs „Freibeuter“. Schmid traf sich mit Cacciari in dessen Wohnung, die gut versteckt unweit eines prominenten Ortes in Venedig liegt.
Person Von Thomas Schmid