Neapel sehen und leben

Die erhabene, kapriziöse Schöne am Mittelmeer fordert Bewohner wie Besucher bis zur Verzweiflung heraus. Alles ist hier Verzückung und Last zugleich. Eine Vorschau auf den neuen mare-Bildband „Neapel“­

Alles an dieser Stadt ist extrem, sie ist die gelebte Dualität, ist Glanz und Abgrund, ist Licht und Schatten, ist Meer und Festland, der Tod steckt genauso in ihr wie das Leben – und beides wird lustvoll zelebriert.

Das Alter der Stadt macht ihren Zauber aus, das Wissen, dass schon über 100 Generationen an ihren Ufern gestanden und aufs Meer geblickt haben, dass es in ihren Tiefen Dinge aus der Vergangenheit gibt, die es noch zu entdecken gilt. Natürlich denkt man als Erstes an Pompeji, aber auch an die Basilika San Procolo, in deren Innerem sich ein Apollotempel verbirgt. 

Der Tanz auf dem Vulkan dürfte der vielleicht abgegriffenste, doch treffendste Begriff für das Lebensgefühl der Neapoli­taner sein, das Wissen, dass es jeden Moment vorbei sein kann mit der eigenen Existenz, dass das Verderben unter deinen Füßen lauert, dass die Erde tanzt, wie man hier sagt, wenn sie sich bewegt, und dass aus dem Tanz urplötzlich ein Totentanz werden kann, eine ganze Stadt begraben wird unter dem, was in den Tiefen brodelt und sich über sie ergießt. 

Der Vesuv liegt im Osten Neapels und dann gibt es da auch noch die Phlegräischen Felder im Westen, ein 150 Quadratkilometer großes Gebiet, das untermeerisch bis nach Pro­cida und Ischia hinüber reicht, die Felder sind ein sogenannter Supervulkan, der sich durch ein Phänomen namens Bradyseismos auszeichnet, eine Art Erdbeben im Zeitlupentempo, das den Boden hebt und senkt, als ob er langsam atmen würde, ein schlechter Atem allerdings, der Schwefelgeruch ist nicht angenehm.

Gut erkennbar ist das Ergebnis solchen Auf und Abs in der antiken Markthalle von Pozzuoli, dem Macellum. An ­seinen Marmorsäulen sind Bänder mit Löchern mariner Bohrmuscheln zu sehen, einst hatte dieser Markt auch unter dem Meeresspiegel gelegen. Der Vesuv und die Phlegräischen Felder besitzen in zehn Kilometer Tiefe eine gemeinsame Magmakammer, und wer sich geologische Darstellungen solcher Kammern anschaut, erkennt, welch unheimliche Kraft darin steckt. Mindestens 300 000 Menschen leben in der direkten Gefahrenzone des Vesuvs, der mit seinen 1281 Metern der Blickfang der Stadt ist, ihr Orientierungspunkt, wenn man aus den Altstadtschluchten auftaucht; 1944 ist er zuletzt ausgebrochen, Aufnahmen zeigen eine tiefgraue Aschewolke horrenden Ausmaßes. 

Doch Neapel zeichnet sich durch mehr Untergründiges, ja Abgründiges aus. Eine Welt im Verborgenen liegt unter den Straßen und Häusern, Napoli sotteranea, das unterirdische Neapel, ist ein geheimnisvolles Labyrinth aus historischen Zisternen, die schon von den Römern in den weichen Tuff gehauen worden waren, da unten finden sich auch Amphitheater und Katakomben aus frühchristlicher Zeit, die Toten hausen unterhalb der Lebenden. Viele Palazzi haben noch Zugänge in den Untergrund. Bis zur großen Choleraepidemie von 1884 wurden diese unterirdischen Gänge und Becken als Wasserspeicher genutzt, später als Müllhalden, alles einfach hinabgeworfen in den stinkenden Schlund. 

Auch oben, in der Stadt selbst, werden die Extreme zelebriert, gehen Leichtigkeit und Schwere Hand in Hand, trinkt man im Stehen einen caffè, eine kurze Plauderei, dann weiter, überholen knatternde Vespas geschmückte Leichenwagen, die man hier nämlich noch sieht, weil das Sterben eben zum Leben gehört, wird gebetet und gefleht und geflucht und dreimal im Jahr kollektiv auf das Blutwunder des San Gennaro gewartet, auf Großleinwand wird das Geschehen aus dem Dom übertragen, das getrocknete Blut des Stadtheiligen soll sich an diesen Daten verflüssigen, das bringt dann allen Glück. 

Weiter mit den Dualitäten: Licht und Schatten gehören dazu, nicht im übertragenen Sinn, sondern ganz real. Das Licht am Meer unten ist strahlend hell, dann wird es verschluckt von der Enge der Altstadtgassen, in denen das Leben tobt, doch je höher man die Hügel erklimmt, desto mehr taucht es wieder auf, da wird die Stadt dann nicht nur sonniger, sondern auch grüner, und es weht ein angenehmer Wind. Auf dem Vomero etwa wohnt es sich komfortabel, überall Gärten und Terrassen von bezaubernder Üppigkeit. 

Der Blick über Stadt und Meer und die Inseln von hier ist atemberaubend, die Herrlichkeit des Golfs liegt vor einem ausgebreitet, und man möchte meinen, man sei Zeit und Raum enthoben, den Elementen ganz nah, doch fern der Nöte der realen Welt. Die wiederum sind natürlich nicht wegzudiskutieren, denn ein paar Straßen weiter geht es mit den Problemvierteln los, was ja auch immer heißt: Es geht mit der Mafia los. 

Die Camorra ist der weitere brodelnde Grund, auf dem die Stadt fußt. Die wohlhabenden Bürger, die am Meer unten in Posillipo oder oben auf dem Vomero in ihren Palazzi leben, mit den Pförtnern im Erdgeschoss, die alles wissen, sind von der Camorra weniger beeinträchtigt als die Armen und Arbeitslosen, von denen es in Neapel so viele gibt. Die Reichen sind oft Alteingesessene, sie haben mit der Mafia meist nichts zu tun, notfalls regeln ihre Leute die schmutzigen Angelegenheiten mit Geld. In ihren Segelclubs werden die Wörter Camorra oder Mafia überhaupt nicht in den Mund genommen, man geht auch nicht in die Altstadt, die Quartieri Spagnoli sind ein ferner, dunkler Kontinent, den man nie betreten würde. 

Neapel war Roms wichtigste Hafenstadt und auch heute ist sie ein bedeutender Hafen, doch vor allem die Fähren zu den Inseln sind für Tausende ­Menschen von enormer Bedeutung, es wird hier gewohnt und dort gearbeitet oder umgekehrt. Dort wären also Ischia, Capri und auch Procida, die kleinste der drei Inseln. 

Den besten Blick auf Napoli, Napule, Neapel hat man vom Meer aus, und schaut man vom Schiff aus auf diese bunte Pracht, diese opulente Schönheit, immer am Rand des Zerfalls, dann stimmt man am besten ein in die Hymne der Stadt, in Dialekt geschrieben vom berühmtesten lokalen Sänger, Pino Daniele, „Napule è“, deren letzte vier Zeilen (Seite 93) so viel Wahrheit enthalten, dass sie auch in Zukunft völlig ausreichen, um die allumfassende Liebe für diese Stadt zu beschreiben. Denn sie sagen etwas sehr Weises: ohne Schatten kein Licht. 

mare No. 154

mare No. 154Oktober / November 2022

Von Zora del Buono und Giovanni Cocco

Giovanni Cocco, 1973 in den Abruzzen geboren, arbei­tet vor allem über soziale Sujets. Für mare fotografierte er zuletzt eine Salzmine in Sizilien.

mare-Redakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, hat nicht nur Wurzeln in Neapel, auch ihre beiden Hunde sind Findeltiere aus dem Umland der Stadt.

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Vita Giovanni Cocco, 1973 in den Abruzzen geboren, arbei­tet vor allem über soziale Sujets. Für mare fotografierte er zuletzt eine Salzmine in Sizilien.

mare-Redakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, hat nicht nur Wurzeln in Neapel, auch ihre beiden Hunde sind Findeltiere aus dem Umland der Stadt.
Person Von Zora del Buono und Giovanni Cocco
Vita Giovanni Cocco, 1973 in den Abruzzen geboren, arbei­tet vor allem über soziale Sujets. Für mare fotografierte er zuletzt eine Salzmine in Sizilien.

mare-Redakteurin Zora del Buono, Jahrgang 1962, hat nicht nur Wurzeln in Neapel, auch ihre beiden Hunde sind Findeltiere aus dem Umland der Stadt.
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