„Natürlich friert man“

Tina Wöckener ist Schiffskrankenschwester. Sie liebt es, durch die Polarmeere zu kreuzen und kranke Seeleute zu versorgen

Zu den letzten Besorgungen vor der Abreise in die Antarktis gehört der Gang in die größte Buchhandlung von Lübeck. Tina Wöckener, 40 Jahre alt, raspelkurze blonde Haare, blaues Jeanshemd, zwei goldene Pandas als Ohrstecker, nimmt sich Zeit für die Auswahl. Schließlich entscheidet sie sich für drei Titel: ein Buch über Hawaii, ein medizinisches Fachbuch und „Der Sturm“, ein aktueller Bestseller aus den USA, der den Untergang eines Fischkutters im Jahrhundertorkan 1991 vor Neufundland nacherzählt. An ein schlechtes Omen aufgrund der darin beschriebenen Katastrophe glaubt Tina nicht: „1991, da war ich auch schon da draußen!“

Tina Wöckener ist Schiffskrankenschwester. In der Regel zwei Monate auf See, zwei an Land. „Seefrau“, gibt sie selbst als Berufsbezeichnung an. „Da draußen“, das sind die Kabeljaubänke im Nordatlantik, der „Zwickel“ bei Ostgrönland, wo Tiefseerotbarsch gefischt wird, oder die Fanggründe südwestlich Islands. Angst im Sturm hatte sie erst einmal, als auf der „Frithjof“ vor Hammerfest bei Windstärke 12 die Maschinen ausfielen und auch die Schlepptrossen zum Rettungskreuzer rissen.

Die aus Cuxhaven stammende „Frithjof“ fährt als Fischereischutzschiff der deutschen Behörden regelmäßig in diesem Gebiet. An Bord sind auch ein Arzt und Krankenschwester Tina Wöckener. Die Aufgabe: medizinische Hilfe für erkrankte Seeleute gleich welcher Fischereination sowie die Kontrolle von Fanggerät und Arbeitsbedingungen.

Die Hochseefischer verarbeiten den Fisch gleich an Bord zum tiefgefrorenen Filet. Für das meiste gibt es Spezialmaschinen. Aber die Endkontrolle der Filets auf Gräten erfolgt per Hand mit einem scharfen Messer, oft von übermüdeten Matrosen bei schwerem Seegang, in Gummistiefeln und auf rutschigem Boden. Schnittverletzungen sind die Folge. Gelenkverschleiß und Rheuma sind häufig. Viele Seeleute, deren Geburtsdatum Tina Wöckener bei der Aufnahme in die schwimmende Krankenstation erfährt, sind vorzeitig gealtert: „Das sind Malocher, da ist nicht viel mit Romantik!“ Im Notfall berät der Arzt die Besatzung des anderen Schiffes über Funk darin, wie der Patient zu stabilisieren ist, bis die „Frithjof“ nah genug ist. Dann setzt Tina mit zwei Matrosen im Schlauchboot über, sich selbst in einen orangenen Überlebensanzug und die benötigten Medikamente und Geräte zum Schutz gegen Spritzwasser in einen Plastiksack verpackt. Manchmal bringt sie den Patienten liegend mit zurück, dann ist er in einen extragroßen Ölanzug gehüllt, damit die Verbände mit hineinpassen. Bisweilen muß die Stadt mit dem nächstgelegenen Krankenhaus angelaufen werden, in den anderen Fällen reicht das Schiffshospital aus. Vollnarkose für Operationen, Instrumente für Zahnbehandlungen, ein Röntgengerät älteren Baujahrs stehen zur Verfügung. Wenn das Schiff bei schwerem Seegang „über Kehr“ geht, fixiert ein Matrose den Patienten auf dem Behandlungstisch, ein zweiter stützt Arzt oder Krankenschwester.

Tina ist kräftig und hält sich fit. Mit sieben hat sie angefangen, Handball zu spielen. Sie ist gewohnt zu kämpfen, und sie hält durch, zu Hause unter schwierigen Familienverhältnissen genauso wie beim Lernen bis zur mittleren Reife. Sie trampt durch Europa und wird Fachkrankenschwester für Anästhesie und Intensivmedizin. Den Umstieg aufs Wasser probiert sie zuerst im Rahmen einer Urlaubsvertretung als Krankenschwester auf der „Meerkatze“. Sie sieht blauen Himmel, viel Wasser, Eisberge vor Grönland und ist begeistert. Dann packt sie ihren Seesack auf Dauer. Die nächsten drei Jahre schlüpft sie bei Handballfreunden unter, wenn sie Landurlaub hat. Erst später leistet sie sich wieder eine eigene kleine Zweizimmerwohnung als Basis. Partner? Nicht alle warten ab, bis sie von See zurück ist. „Schade, aber das muß man in Kauf nehmen“, meint sie, „da kann man nichts machen.“


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mare No. 9

No. 9August / September 1998

Von Marianne Lange und Melanie Dreysse

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