Murano – Geheimnisse aus Glas

In Venedigs Lagune liegt das Weltzentrum der Glaskunst. Hier entsteht in verschwiegenen Verfahren exklusivstes Kunsthandwerk

Ein Irrsinn, nach Murano mit dem Boot zu fahren. Sich zu erdreisten, den Elementen in der topetta, dem kleinen, venezianischen Fischerboot, die Stirn zu bieten – Elementen, die hier vor allem aus den monströsen Bugwellen der Taxiboote bestehen: Gelingt es, dem einen Brecher auszuweichen, schwappt schon der nächste ins Boot. Der Kanal, der durch die Lagune nach Murano führt, ist die Rennstrecke der Wassertaxis. Sie pflügen durch das Wasser, um betuchte Kunden zum Flughafen oder in die klimatisierten Showrooms der Glasbläsereien auf Murano zu bringen, zu den großen Namen: Venini, Salviati, Barovier & Toso, Moretti, Berengo Studio, Cenedese – such dir was aus!

Wieder rast ein Riva-Boot an uns vorbei, weshalb wir froh sind, endlich in den stillen Seitenkanal der Sacca Serenella abzubiegen. Hier liegen keine Jetset-Boote am Ufer, sondern verschrammte Lastkähne und die Boote der Glasarbeiter. Die Sacca Serenella ist die unscheinbarste der sieben Inseln, aus denen Murano besteht: keine Palazzi, keine von Gärten umkränzten Landvillen, sondern Glasscherben und mit Unkraut bewachsene Hundewiesen. Im Grunde ist die Sacca Serenella nichts anderes als eine Müllhalde – sacca nennt man in Venedig eine durch Aufschüttungen künstlich geschaffene Insel. Die im Fall der Sacca Serenella nicht nur aus aufgehäuftem Meeresgrund besteht, der bei Grabungen und Kanalvertiefungen gewonnen wurde, sondern auch aus den Abfällen der Muranoglasbläsereien. Noch heute stecken der Boden und der umliegende Kanal voller Schwermetalle.

Auf der Sacca Serenella liegt die Glasbläserei Anfora, eine der letzten Glaskunstwerkstätten auf Murano. Hier sitzen keine reichen Russinnen herum, die sich mit Blattgold ausgelegte Kronleuchter fürs Gästebad wünschen, hier tänzeln Männer mit Schweißbändern um die Stirn durch ein Gewirr aus Öfen, Röhren und Wasserbecken. Mit Gewichthebergürteln um die Hüften balancieren sie glühende Lava auf Stangen zwischen Schmelzöfen und lodernden Gasflammen und beschneiden zähflüssige Glastropfen mit Zangen.

Von der Gischt durchnässt starren wir wie hypnotisiert in die glühenden Höllenschlünde und werden Zeuge, wie die vier Elemente hier ihre Verbindung eingehen. Glas ist nichts anderes als Feuer, Wasser, Luft und Erde. Nun gut, keine Erde, sondern saccharinweißer, puderzuckerfeiner, aus Fontainebleau importierter Sand, Soda zum Auflösen und Kalk natürlich auch: Das cristallo, ein mit Manganoxid entfärbtes Soda-Kalk-Glas, hat den Weltruhm des venezianischen Glases begründet. Erfunden hat es der Glasbläser Angelo Barovier Mitte des 15. Jahrhunderts – eine Revolution: erstmals ungetrübtes, klar durchsichtiges Glas mit der Brillanz von Bergkristall.

Andrea Zilio ist der Glasmeister der Werkstatt Anfora, ein 55-jähriger Hüne, der mehr als sein halbes Leben an den Brennöfen verbracht hat. Als Maestro steht er an der Spitze der Hierarchie in der Glaswerkstatt, ihm arbeiten der servente, der serventin und der garzone zu. Anfangs ist da nichts als eine rot glühende Birne am Ende eines Metallstabs: Während der servente bläst, dreht und formt der Maestro das glühende Glas mit der Hand, geschützt mit Holzformen aus hitzebeständigem Birnenholz und nassem Zeitungspapier, das zischt und Funken sprüht, wenn der Maestro damit über das glühende Glas streicht.

Die Fachbegriffe der Glasmacherkunst entstammen dem Dialekt, der auf Murano gesprochen wird. Pea – das Muraneser Wort für „Birne“ – wird der rot glühende Glasrohling genannt, egal ob man in einer Glasbläserei in Los Angeles das Glas bearbeitet oder in Osaka. Für Glaskünstler bleibt Murano bis heute das Mekka. Wer auf sich hält, hat hier gearbeitet. Maestro Andrea arbeitet mit Künstlern aus der ganzen Welt zusammen, verwirklicht ihre Ideen – und macht ihnen gegebenenfalls klar, dass der Wärmeausdehnungskoeffizient von Kobaltblau nicht mit dem von Kanariengelb zu vereinbaren ist. Nie aber, versichert Andrea, würde er sich zu Geschmacksfragen äußern, lediglich zur Technik.

Heute steht der venezianische Glaskünstler Massimo Micheluzzi hinter ihm und versucht, dem Maestro zur Hand zu gehen, der jetzt applicazioni a caldo auf schwere, dickwandige Vasen aufträgt: Glassirup, der wie zähflüssiger Honig auf die Vase tropft. Die Zusammenarbeit zwischen dem Glaskünstler und dem Maestro ist das Herzstück der Glaskunst von Murano: Ohne die Fertigkeit des Maestros versiegt die Kunst, und ohne die Inspiration des Künstlers bleibt es bei solidem Handwerk. Jedenfalls theoretisch. Für Venini arbeiteten Künstler wie Carlo Scarpa, die Kooperative Fucina degli Angeli wurde dank der Zusammenarbeit mit Pablo Picasso, Max Ernst oder Jean Arp berühmt. Immer wieder gibt es auch Glaskünstler, die sowohl Handwerker als auch Künstler sind – und deren technische Fertigkeiten es ermöglichen, ihre ästhetischen Visionen selbst zu verwirklichen; Carlo Moretti war einer davon oder der venezianische Maestro Napoleone Martinuzzi, dessen Glasskulpturen Gabriele D’Annunzio liebte. Allerdings revolutioniert nicht jeder Künstler die Glaskunst so, wie es etwa dem Japaner Yoichi Ohira gelungen ist, der oft mit dem Maestro Andrea Zilio zusammengearbeitet hat: Minimalismus meets Murano. Mit einer klaren Formensprache übertraf der Japaner Ohira sogar die Einflüsse der Nüchternheit der Skandinavier, die bis dahin als Gipfel der Modernität gegolten hatten.

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mare No. 131

No. 131Dezember 2018 / Januar 2019

Von Petra Reski und Hans Hansen

AutorinPetra Reski, die seit 1991 in Venedig lebt, entdeckt ihre Stadt gerade neu: Sie hat im vergangenen Sommer gelernt, ein Fischerboot zu fahren. Wer die Arbeit eines Glasbläsers auf Murano beobachtet, so ihre Erfahrung, verwandelt sich wieder in ein staunendes Kind.

Der Hamburger Fotograf Hans Hansen erinnert sich, gelesen zu haben, dass man die Glaskünstler Venedigs früher auch „Lichtfänger“ nannte. Als Meister des Lichtbilds erkennt er da durchaus Gemeinsamkeiten.

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Vita AutorinPetra Reski, die seit 1991 in Venedig lebt, entdeckt ihre Stadt gerade neu: Sie hat im vergangenen Sommer gelernt, ein Fischerboot zu fahren. Wer die Arbeit eines Glasbläsers auf Murano beobachtet, so ihre Erfahrung, verwandelt sich wieder in ein staunendes Kind.

Der Hamburger Fotograf Hans Hansen erinnert sich, gelesen zu haben, dass man die Glaskünstler Venedigs früher auch „Lichtfänger“ nannte. Als Meister des Lichtbilds erkennt er da durchaus Gemeinsamkeiten.
Person Von Petra Reski und Hans Hansen
Vita AutorinPetra Reski, die seit 1991 in Venedig lebt, entdeckt ihre Stadt gerade neu: Sie hat im vergangenen Sommer gelernt, ein Fischerboot zu fahren. Wer die Arbeit eines Glasbläsers auf Murano beobachtet, so ihre Erfahrung, verwandelt sich wieder in ein staunendes Kind.

Der Hamburger Fotograf Hans Hansen erinnert sich, gelesen zu haben, dass man die Glaskünstler Venedigs früher auch „Lichtfänger“ nannte. Als Meister des Lichtbilds erkennt er da durchaus Gemeinsamkeiten.
Person Von Petra Reski und Hans Hansen