Mondpropaganda

Wenn es den Mond nicht gäbe, müssten wir ihn erfinden. Ohne ihn wäre die Erde für uns unerträglich

Wir lasen es oller Respekt in der Zeitung: Buzz Aldrin, zweiter Mann auf dem Mond, streckte kürzlich mit seinen 72 Jahren per Faustschlag einen Fernsehreporter nieder. Der hatte von dem alten Haudegen des Apollo-Programms auf offener Straße eine Ungeheuerlichkeit verlangt: eine eidesstattliche Versicherung, dass Aldrin tatsächlich auf dem Mond gelandet war. Und dass die Lunarexpeditionen der Amerikaner in den sechziger und siebziger Jahren nicht im TV-Studio stattgefunden hatten und von dort live übertragen worden waren. Wir kennen die wunderbaren Verschwörungstheorien: alles nur Show, niemand habe je wirklich den Erdtrabanten betreten. Das Internet ist voll von einschlägigen Verdächtigungen, ein Fernsehfilm auf Arte hat dieser Tage erst die Gerüchteküche mit neuem Dampf gefüllt.

Legen wir noch einmal nach, mit einer erweiterten Variante, und die lautet: Es gibt gar keinen Mond. Alles nur Projektion am Dach des Himmelszelts. Wir sind allein in unserem Orbit, kein Begleiter umkreist uns. Wäre das denkbar? Sicherlich. Aber es hätte, anders als die Frage „Mondlandung – ja oder nein?“, handfeste Konsequenzen für uns. Nicht nur, dass wir nie wieder eine totale Sonnenfinsternis erleben dürften, nicht nur, dass unsere Hunde abends irgendeinen anderen Himmelskörper, zum Beispiel die nächstgelegene Sonne Alpha Centauri, anheulen müssten. Schlimmer noch: Womöglich gäbe es den Menschen gar nicht ohne Mond. Noch nicht. Der geschätzte Leser wäre vielleicht noch eine Mikrobe, der Autor irgendein anderer Einzeller.

Die größte Schubkraft für seine Quantensprünge erfuhr das Leben auf Erden schließlich im Grenzbereich zwischen Land und Meer. Nicht in abyssischen Meerestiefen und nicht in luftiger Höhe, sondern dazwischen. Eine solche Grenze ist zwar immer gegeben. Und sie wäre selbst ohne Mond fließend, schafft doch auch die Sonne Gezeiten. Obwohl sie mehr als 400 Mal so weit weg ist wie der Mond, übt sie – die Masse macht’s – immerhin noch ein Drittel der Saugwirkung des Mondes auf die Meere aus. Auch dieses Auf und Ab hätte Leben erschaffen können.

Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Oder auch nur ein Tausendstel von ihr. Der Mond nämlich begann seine Laufbahn um ein Vielfaches näher an der Erde, nicht in seiner heutigen Distanz von annähernd 360000 Kilometern. Nehmen wir an, ein rundes Zehntel davon, also etwa dort, wo heute die Fernsehsatelliten stehen, in zirka 30 Kilometer Höhe. Da die Tidenkräfte nicht linear, sondern kubisch ansteigen, waren sie damals 1000 Mal so stark. Kaum auszumalen, welch große Flächen der Mond in sein überaus dynamisches Reich von Ebbe und Flut einverleiben konnte, sobald Wasser zum Schieben und Ziehen vorhanden war.

Da fand Schöpfung statt, da kam Leben in die Krume. Der Transport mit nährstoffreichen Schwemmfrachten bediente gewaltige Flächen, Küste und Hinterland, Berg und Tal wurden zur riesigen Petrischale für alles, was Leben werden wollte. Und später dann ein grenzenloses Paradies für alles Amphibische. Der Mond verpasste der Erde Wechselbäder mit einer Kraft, die wir ihm heute, aus unserer Distanz betrachtet, kaum mehr zutrauen mögen.

Ohne Mond nichts los also in der Evolution. Und wenn es dennoch geklappt hätte, mit der Menschwerdung des Einzellers? Wie wäre uns geschehen, wie wäre unser Antlitz, so ganz ohne Mond? Die Antwort weiß der Wind, der uns in dem Fall mit unerhörten Hurrikanstärken geformt hätte. Ganz im Gegensatz zu heutigen Tagen wären nicht die Schlanken, Astralartigen die Gewinner der Evolution. Sie wären weggepustet worden, auf den Haufen der Gescheiterten der Menschheitsgeschichte. Auf dem Beziehungsmarkt gefragt dagegen, weil überlebensfähig, wären die Kleinen, die Gedrungenen, Stämmigen, womöglich gar Mehrbeinigen – weil alleine Standfesten. Auch dürften unsere Extremitäten ein paar Nummern kürzer ausgefallen sein: In unserer evolutionären Zwischenstation, irgendwo bei den Affen beispielsweise, wäre ein Leben auf Bäumen unmöglich gewesen. Ständig wären wir heruntergerissen worden wie Herbstlaub, ausladende Schwingarme und -schwänze hätten keinen Sinn ergeben. Ohnehin ist ein Baum unter diesen Umständen als Wohnort wenig attraktiv, niederwüchsig, weil sturmresistent bietet er keinen Schutz vor Fressfeinden. Und die Sprache, die so viel zur Menschwerdung beitrug – sie hätte es wohl nie zur Artikulation gebracht. Wer kann sich schon bei Dauerstürmen mit Windgeschwindigkeiten von zwei-, dreihundert Kilometern pro Stunde unterhalten?

Noch heute wären wir diesen Stürmen ausgesetzt, wenn nicht irgendetwas – nahe der Geburtsstunde unseres Sonnensystems – aus dem Himmel auf uns gekracht wäre. Und das aus Stein und Glut der Erde jenen Brocken herausgesprengt hätte, der seither mit so großer Kraft auf die Erde einwirkt. War doch die Erdrotation, bevor der Mond das erste Mal aufging, drei Mal schneller als heute. Entsprechend stärker waren logischerweise auch die Bewegungen in der Erdatmosphäre. Überhaupt waren das bewegte Zeiten, bei diesem höheren Drehmoment: 1095 Tage hatte das Jahr. Nach heutiger Rechnung 938,5 Werktage, denn vom freien Samstag war damals, am Anfang der Schöpfungsgeschichte, noch lange nicht die Rede. Und selbst am siebten Tag hatte der Herrgott wenig Zeit zu ruhen. Kaum war die Sonne aus dem Morgengrauen aufgetaucht, da leuchtete schon bald irgendein Abendstern auf – und hinein ging es in die neue, sturmgepeitschte Woche.


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mare No. 35

No. 35Dezember 2002 / Januar 2003

Ein Essay von Ulli Kulke

Mehrmals schon sprach Ulli Kulke mit dem Mondreisenden Buzz Aldrin. Allerdings versichert Kulke, ihm nie jene verhängnisvolle Frage nach seinem tatsächlichen Aufenthalt auf dem Erdtrabanten gestellt zu haben. Kulke, Jahrgang 1952, langjähriger stellvertretender Chefredakteur von mare, ist Wissenschaftsreporter der Berliner Tageszeitung Die Welt.

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Vita Mehrmals schon sprach Ulli Kulke mit dem Mondreisenden Buzz Aldrin. Allerdings versichert Kulke, ihm nie jene verhängnisvolle Frage nach seinem tatsächlichen Aufenthalt auf dem Erdtrabanten gestellt zu haben. Kulke, Jahrgang 1952, langjähriger stellvertretender Chefredakteur von mare, ist Wissenschaftsreporter der Berliner Tageszeitung Die Welt.
Person Ein Essay von Ulli Kulke
Vita Mehrmals schon sprach Ulli Kulke mit dem Mondreisenden Buzz Aldrin. Allerdings versichert Kulke, ihm nie jene verhängnisvolle Frage nach seinem tatsächlichen Aufenthalt auf dem Erdtrabanten gestellt zu haben. Kulke, Jahrgang 1952, langjähriger stellvertretender Chefredakteur von mare, ist Wissenschaftsreporter der Berliner Tageszeitung Die Welt.
Person Ein Essay von Ulli Kulke