Moana, der freundliche Ozean

Auf Tahiti ist das Meer kein Gegner. Wasser ist doch nur eine flüssige Schwester der Luft! Und Kinder sind wie Fische

Die Mutter ist ein brauner Fisch. Wenn sie auf dem Bauch im Wasser liegt, tauchen ihre Fersen auf wie rosa Perlen. Ihr Mund ist eine Mondsichel über dem Wasser, ihr Kinn ist verschwunden. Sie reißt die mandelförmigen Augen auf. Schwarzes Haar klebt ihr wie Algenstränge am Hals, bis es von den Schultern wegschwimmt. Vor ihr tapst ein nacktes Kind im Wasser. Der Vater sitzt daneben und hält es am Arm. Er schöpft und lässt Wasser aus seiner Hand über die kleinen Schultern rinnen, den gewölbten Bauch, dann wieder über den Kopf, die Arme. Der Vater streichelt es mit Wasser, formt es noch einmal mit dem Meer. Schaumgeborenes Kind.

Revanui haben es die Eltern getauft, Revanui heißt „die große Zeit". Die Mutter schiebt sich mit den Unterarmen, im Krebsgang, um ein Weniges weiter in die Wellen zurück und lacht den beiden zu, die nun ein Seeungeheuer mit zwei Köpfen sind. Bis die Kleine hochkrabbelt und auf dem Vater zu springen beginnt. Revanui ist acht Monate, das ist ein Alter, in dem europäische Kinder gut verpackt und angeschnallt in Schaukelwippen liegen.

Revanui ist oft am Meer. Ihr Vater arbeitet bei der Gemeinde von Papeete, aber abends, wenn die Sonne milder ist, fährt die Familie die zehn Kilometer an den Strand. „La mer est bon pour les enfants", sagt der Vater - das Meer ist gut für die Kinder. Und im Klang ist „la mer", das Meer, nicht unterscheidbar von „la mère", die Mutter - was eins ist in der Lagune, wo die Mutter, ein schnappender glänzender Fisch, mit rosa Fersenperlen spielt.

Abends kommen die Fische an die Straße. Ein zweites, von Menschen gebautes Riff aus Stein, Sand und Teer umrundet die Insel, an dem sich der innere grüne Ozean von Wäldern in tropischen Gärten bricht. Die Straße ist die Verkehrsrinne der Zivilisation, an ihre Ränder schmiegen sich Wohnsiedlungen, Einkaufszentren, Schulen, Werften.

Tahitis Straße ist auch Markt. An den Stangen der offenen Lieferwagen hängt aufgefädelt die Meeresbeute des Tages wie fette Blüten in Rosa, Grün, Blau, Korallenrot, Metallic und Grau. Während die Fischer im Schatten dösen, läuten ihre Frauen die Schiffsglocken, um Käufer anzulocken, und wedeln mit gefalteten Zeitungen gegen die Fliegen.

Es ist die Zeit, da die Trucks pausenlos fahren. Die zerschrammten Lieferwagen, mit den langen, hölzernen Sitzbänken, sammeln ein, was um Papeete herum noch unterwegs ist. Bald werden sich die Spektakel der barocken Sonnenuntergänge entzünden und die Farben vor dem Scherenschnitt der Schwesterinsel Moorea noch einmal aufjubeln, bevor die Nacht pünktlich wie ein Theatervorhang fällt.

„Il est interdit de boir et de fumer", Rauchen und Trinken verboten. Schulter an Schulter schaukeln die Fahrgäste im Tuckern des Dieselmotors und kümmern sich nicht um das handgemalte Schild neben dem offenen Einstieg. Abends werden auch Verbote müde. Zwei Schüler, die Kollegmappen auf dem Plankenboden, rollen Tabak aus indigoblauen Bison-Päckchen und blasen den Rauch mit zugekniffenen Augen und schrägem Kopf aus den Schiebefenstern. Ein alter Gärtner kippt eine Hinano-Bierdose; ein Tattoo läuft über die rechte Hälfte seines Gesichts, den schweißglänzenden Brustkorb hinunter bis in die Fingerspitzen.

Im Fahrtwind mischen sich die süßen Abgase mit einem frischen, bitteren Wind vom Meer. Ein dunkelhäutiges Mädchen ist auf dem Schoß seines Großvaters eingeschlafen, der ihre nackten Füße in der Hand hält, als hüte er kleine Tiere. Die Großmutter daneben dämmert ein ums andere Mal unter ihrem frisch dekorierten Strohhut für Sekunden ein, um schreckhaft immer wieder hochzufahren.

Der überladene Truck hält und nimmt zwei Rucksacktouristen auf. Auch die mittlere Bank, auf der man in Fahrtrichtung rittlings sitzt, ist voll. Aber dann nimmt einer sein Bündel Ananas auf den Schoß und ein anderer die Plastiktüte voller Mangos, man ruckelt und rutscht, und der Fremde mit Gepäck passt noch hinein. Wer hier sitzt, spürt nun den Hintern des Vordersitzers zwischen den Knien oder Schenkeln und die Knie oder Schenkel des Hintersitzers am eigenen Gesäß. Doch es wäre unfreundlich, jemanden zurückzuweisen, der mitfahren wollte. Und zum Stehen ist der Seegang auf der Straße von Tahiti zu stark, in diesen rasanten, ungefederten Trucks, die nur einen immer offenen Eingang haben, aber keine Tür.

„Das Boot, das Boot", ruft das Mädchen, das aufgewacht ist, und zeigt hinaus auf ein erleuchtetes Schiff, das wie ein Hochhaus über dem Wasser schwebt. Der Fahrer schaltet krachend und gibt Gas. Sein Hut, von dem die Palmzweigstacheln wild abstehen, strahlt wie der Fetisch eines Gegenzaubers.


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mare No. 42

No. 42Februar / März 2004

Von Angelika Overath und Joachim Ladefoged

Angelika Overath, Jahrgang 1957, lebt als Literaturkritikerin, Reporterin und Schriftstellerin in Tübingen. Zuletzt ist von ihr erschienen Das halbe Brot der Vögel. Portraits und Passagen. 1996 erhielt sie den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Auf Tahiti bekam sie von einem einheimischen Fischer ihre erste Schnorchelstunde und hatte dabei prompt eine Begegnung mit einem Hai.

Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, ist Däne und lebt in Ry, südlich von Aarhus. Er arbeitet regelmäßig für Geo, National Geographic und New York Times Magazine und wurde mehrfach mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet. Tahiti hat er sich ganz anders vorgestellt. Anstelle weißer Strände, Sonnenschein und beschwingtem Leben fand er Regen, schwarze Strände und hart arbeitende Menschen.

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Vita Angelika Overath, Jahrgang 1957, lebt als Literaturkritikerin, Reporterin und Schriftstellerin in Tübingen. Zuletzt ist von ihr erschienen Das halbe Brot der Vögel. Portraits und Passagen. 1996 erhielt sie den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Auf Tahiti bekam sie von einem einheimischen Fischer ihre erste Schnorchelstunde und hatte dabei prompt eine Begegnung mit einem Hai.

Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, ist Däne und lebt in Ry, südlich von Aarhus. Er arbeitet regelmäßig für Geo, National Geographic und New York Times Magazine und wurde mehrfach mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet. Tahiti hat er sich ganz anders vorgestellt. Anstelle weißer Strände, Sonnenschein und beschwingtem Leben fand er Regen, schwarze Strände und hart arbeitende Menschen.
Person Von Angelika Overath und Joachim Ladefoged
Vita Angelika Overath, Jahrgang 1957, lebt als Literaturkritikerin, Reporterin und Schriftstellerin in Tübingen. Zuletzt ist von ihr erschienen Das halbe Brot der Vögel. Portraits und Passagen. 1996 erhielt sie den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Auf Tahiti bekam sie von einem einheimischen Fischer ihre erste Schnorchelstunde und hatte dabei prompt eine Begegnung mit einem Hai.

Joachim Ladefoged, Jahrgang 1970, ist Däne und lebt in Ry, südlich von Aarhus. Er arbeitet regelmäßig für Geo, National Geographic und New York Times Magazine und wurde mehrfach mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet. Tahiti hat er sich ganz anders vorgestellt. Anstelle weißer Strände, Sonnenschein und beschwingtem Leben fand er Regen, schwarze Strände und hart arbeitende Menschen.
Person Von Angelika Overath und Joachim Ladefoged