Mit Tentakeln denken

Eine Qualle lehrt es uns: In der globalen Krise müssen wir ­Menschen uns wieder mehr als Schwarm empfinden

Es war im September 2019, als ich einem der gefährlichsten Raubtiere der Welt zum ersten Mal begegnete. Ich recherchierte für meinen zweiten Roman und hatte mich schon einige Zeit mit diesem Tier beschäftigt. Ich wusste also, was mich erwartete. Kriegerisch sei es, so hieß es in Berichten, räuberisch, kannibalisch. Ein alles verschlingendes Ungeheuer, das beschlossen hatte, in einen Krieg gegen die Menschen zu ziehen und das Ökosystem der Ozeane nachhaltig zu zerstören. Vor dem Eingang des Geomar-Instituts in Kiel badeten Seehunde. Ich stand drinnen, im Dunkeln, vor der Scheibe des Aquariums. Und da, so zart, kaum vom Wasser zu unterscheiden: dünne Faden­zeichnungen auf der milchigen Oberfläche, in der Mitte dicke­re, rippenähnliche Linien, sie pulsierten bunt. Ein funkender Roboter. Eine Plastiktüte, verloren auf See. Eine schwebende Later­ne mit weiten Flügeln. Die Meerwalnuss.

Die Meerwalnuss, Mnemiopsis leidyi, gehört zu den Rippenquallen. Sie ist ein Hermaphrodit. Sie kann Eier produzieren und befruchten, bis zu 10 000 am Tag. Ursprünglich stammt sie von der Atlantikküste Nord- und Südamerikas, doch in den 1980ern gelangte sie in Ballastwassertanks von Frachtschiffen ins Schwarze Meer. Dort hatte sie keine Fressfeinde, das Meer war bereits erwärmt und versauert, und sie konnte sich massenhaft ausbreiten. Die Sardellenfänge brachen innerhalb von zehn Jahren auf ein Zehntel ein und erholten sich nicht mehr. Dasselbe passierte später im Asowschen Meer. Und vor einigen Jahren wurde die Meerwalnuss nun zum ersten Mal in Nord- und Ostsee gesichtet. 

Es war aber nicht die Diskrepanz zwischen der zarten Erscheinung und dem Ausmaß der Zerstörung, die mich vor der Glasscheibe verharren ließ. Als ich vor dem Aquarium stand, sah ich noch immer die Schlagzeilen vor mir – ein Nutznießer des Klimawandels sei dieses Tier, Globalisierungsgewinner, ein Monster der Anpassung –, doch in diesem Augenblick offenbarte mir die Meerwalnuss vielmehr den Menschen als Rhetorikkünstler, der sich geschickt aus der Verantwortung schreibt, indem er die Rollen vertauscht und sich selbst als Opfer eines Überfalls darstellt.

Die Meerwalnuss erzählte mir eine Geschichte der Entfremdung, die wohl bereits mit der Sesshaftwerdung des Menschen begonnen hat, als man nicht mehr mit der Natur, sondern von ihr lebte und zugleich umso vehementer die Überlegenheit des Menschen behauptete. Eine Geschichte, in der das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in eine immer größere, nicht mehr reparierbare Schieflage gebracht wurde. Die Äußerungen über die Meerwalnuss mögen anfangs nur wie eine rhetorische Raffinesse klingen, um einen Umgang mit den apokalyptischen Szenarien zu finden. Doch mittels Sprache bezeichnet der Mensch die Welt nicht nur, sondern er tritt durch sie mit ihr in Verbindung. Beschränkt man sich aber auf Rollenzuschreibungen, verhindert das eine tatsächliche Auseinandersetzung und macht nicht nur die Meerwalnuss, sondern auch den Menschen zum unbeweglichen Protagonisten seiner eigenen Geschichte, dem nichts anderes übrig­ bleibt, als stumm und starr hinter einer Glasscheibe im Aquarium zu stehen und nach draußen zu schauen.

Die Menschheit befinde sich in der Klimakrise in einer „Spirale der Selbstzerstörung“, die sich durch eine gestörte Risikowahrnehmung, Gefahrenunterschätzung und Unbesiegbarkeitsglauben äußere, sagte im April 2022 Amina J. Mohammed, Vizechefin der UN. Übrig bleibt eine Angst vor dem Unbekannten, die ihre Wurzeln verloren hat und die wir mit Worten nicht mehr zu fassen bekommen. Sprechen bedeutet auch: der Bewegung vertrauen. Sich überrumpeln lassen. Wachsam sein für die schmerzhaften Zwischentöne, die uns wieder von Figuren zu Menschen machen. Es geht darum, zurück zum Sprechen zu finden. 

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mare No. 153

mare No. 153August / September 2022

Von Marie Gamillscheg

Marie Gamillscheg, 1992 in Graz geboren, lebt und arbeitet als freie Autorin in Berlin. 2018 veröffentlichte sie den Roman „Alles was glänzt“, für den sie unter anderem den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises erhielt. Ihr zweiter Roman, „Aufruhr der Meerestiere“ (2022 bei Luchterhand erschienen), steht aktuell auf der Bestenliste des ORF und des SWR. Ihre erste Schwarm-Arbeit für die Bühne wird im Oktober 2022 im Kosmos Theater Wien uraufgeführt.

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Vita Marie Gamillscheg, 1992 in Graz geboren, lebt und arbeitet als freie Autorin in Berlin. 2018 veröffentlichte sie den Roman „Alles was glänzt“, für den sie unter anderem den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises erhielt. Ihr zweiter Roman, „Aufruhr der Meerestiere“ (2022 bei Luchterhand erschienen), steht aktuell auf der Bestenliste des ORF und des SWR. Ihre erste Schwarm-Arbeit für die Bühne wird im Oktober 2022 im Kosmos Theater Wien uraufgeführt.
Person Von Marie Gamillscheg
Vita Marie Gamillscheg, 1992 in Graz geboren, lebt und arbeitet als freie Autorin in Berlin. 2018 veröffentlichte sie den Roman „Alles was glänzt“, für den sie unter anderem den Debütpreis des Österreichischen Buchpreises erhielt. Ihr zweiter Roman, „Aufruhr der Meerestiere“ (2022 bei Luchterhand erschienen), steht aktuell auf der Bestenliste des ORF und des SWR. Ihre erste Schwarm-Arbeit für die Bühne wird im Oktober 2022 im Kosmos Theater Wien uraufgeführt.
Person Von Marie Gamillscheg