Menschen, Meere, Metamorphosen

Allein im Segelboot auf dem Meer. Wohl kaum eine Situation regt so sehr zum Nachdenken an, wühlt die Gefühle auf und weckt alte Erinnerungen

Die Nachwehen eines Sturms schieben mich auf einer langen Dünung ins saugende Blau der Ägäis. Ihre luftige Droge spiegelt mir Untiefen, Treibsände und Abgründe. Bilder und Sätze laden sich auf, scannen sich ein in das Bewusstsein. Räume reißen auf, Zeiten, Szenen, Archetypen. Verblasste Muster konturieren sich. Dialoge mit meinem Gegenbild. Erinnern im Inneren des Schiffs.

Querab liegt Jaros, vor Jahren eine Insel der Verbannung. Das doppelte Gesicht einer jeden Insel: Fluchtort der Freiheit oder Gefängnis. Dem Meer bleibt es gleichgültig, ob es Graben oder Brücke ist. Auf meiner schwimmenden Insel schwanke auch ich zwischen Fesselung und Freiheit, Wut und Euphorie.

Was treibt dich um, Flaneur der Meere, Strömer der Gezeiten? Warum lieferst du dich leichter auf der Bordkante einem Sturm aus als im festen Heim den Armen einer wärmenden Frau? Welch ein Knast muss für dich das Festland sein, wenn du dich frei fühlst, wo dein Spielraum gerade dreißig Fuß misst, deine Muskeln schwinden, dein Auge nichts Festes peilt, der ganze Horizont dein Ego ist und du doch von Gartengrün und Häfen träumst. Bist du nicht angekommen, angenommen, aufgenommen? Ist es die Freiheit des Ausgestoßenen, der in den Mutterleib zurück will und mit einem Schiffsbauch vorliebnehmen muss?

Voraus, im diesigen Silber, taucht die Silhouette von Delos aus dem Meer. Hier versteckte Poseidon Leto vor Hera, damit sie Apoll gebären konnte, den Gott des Lichts. Segeln durch Raum und Zeit. Ich blicke ins Wasser und sehe mich als kleinen Jungen an einem Bach. Ich blicke den Stichlingen nach, die flußabwärts schießen. Ihre dunklen Leiber ziehen Schlieren aus Licht und Schatten über den sandigen Grund. Stromlinien eines Sommertags. Wie weit es noch war bis zum Meer!

Ich muss zwölf gewesen sein, als runde, umströmte Körper mich in ihren Bann zu ziehen begannen. Auf dem nächsten Bild halte ich meinen Arm wie einen Flügel aus dem Zugfenster. Der Fahrtwind hebt die gewölbte Hand. Handschmeichelnder Auftrieb. Als andere in meinem Alter schon mit den Mädchen gingen, stieß ich mein erstes Segelflugzeug in den Wind. Dann knie ich auf dem schwarzen Schnürboden und ritze Spantkurven ins Holz, lerne Tropfenbugs schmieden und stromlinienförmige Ruder schweißen – das Kurvenkunstwerk des Schiffbaus –, als Eisenschiffe nicht „netweight“ hatten, sondern auch noch eine gute Figur machten.

Bei leichtem Wind laufe ich über eine Untiefe hinweg. Ich liege bäuchlings auf dem Schiff. Die Sonne erhellt das grüne submarine Biotop. Die Stunde Null der Seefahrt schlug irgendwann im Paläozoikum, als sich aus der Öde der Evolution, die außer Einzellern und niederem Gewürm zoologisch nicht viel hervorgebracht hatte, das zarte Lanzettfischchen schälte.

Mit ihm war die Geschwindigkeit in der Welt, das Design des geringsten Widerstandes: Das Stromlinienprofil. Voraneilende Körper und Wasser schließen in der Tropfenform einen eleganten Kompromiss. Die späten Nachfolger des Lanzettfischchens tauschten, als sie an Land und in die Luft gingen, die Flossen gegen Beine und Flügel ein. Der Rückweg war beschwerlich. Da stolpert der Mensch nun schon Jahrmillionen zweibeinig auf dem Trockenen umher. Ein abgerissener Landräuber, der neidvoll jedem Geflügel und Gefisch hinterdreinblickt und an seinem Comeback bastelt. Mit Rümpfen, Rudern, Segeln und rotierenden Flossen, hangelnd zwischen den Hüften des Schiffs, geschrumpft zum inneren Organ seines Gefährts. Weder Fisch noch Schiff.

Das Wasser ist blauschwarz geworden. Ich habe tausend Fuß unterm Kiel, die tiefste Stelle auf meinem Törn. Leichter Dunst, keine Landsicht mehr. Auch der Wind hat sich verabschiedet. Eine bleierne Taubheit umgibt alles. lch spanne das Sonnensegel auf und rette mich ins Spekulative.

Jede Geografie hat ihre Gefühlslagen. Wasserlandschaften können wie Hormonspritzen wirken. Die Quelle belebt mich, die Bergklamm beschert mir Beklemmungen, der reißende Bach macht mich unternehmungslustig, der breite langsame Strom fördert meine Schwermut, die Flussmündung lässt Sehnsüchte wach werden. Es ist wohl niemand ganz frei davon.

Schon gar nicht auf dem Meer. Während der Passage folgen die Gedanken, Empfindungen und Gespräche dem Tiefenprofil des Meeresbodens. Wenn das Schiff ablegt, richtet man sich rasch in seiner neuen Umgebung ein, löst sich dann allmählich, während die Küste aus dem Blick verschwindet, aus der nachwirkenden Geschäftigkeit des Alltags auf dem Festland und öffnet sich tieferen Schichten seiner Person. In der ersten Reisehälfte wiegen die Erinnerungen an die „alte“ Welt vor. Danach richten sich die Gefühle und Gedanken auf das, was uns in der „neuen“ Welt erwartet.

Je tiefer der Grund, um so mehr „Tiefgang“ haben auch die Gefühle und Konversationen. Der Körper dämmert vor sich hin. Mit dem ansteigenden Meeresboden, den helleren Wassertönen in Landnähe, weicht das Gefühl des Ausgeliefertseins dem leichtsinnigen Empfinden, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen. Der Körper lebt wieder auf. Dafür plätschern die Gespräche flüssiger vor sich hin. Je flacher die Gewässer, um so flacher und vordergründiger und konkreter werden die Themen. Lebhafter und kantiger werden die Bewegungen des Körpers, wenn sich die Wellen knapp und schaumig vor der Küste brechen.

Ich laufe vor leichtem, raumem Wind, kleine, launige Böen stippen den Bug ein. Die Wellen wollen mich einwiegen, doch der kleine Zickzackkurs hält mich wach. Ich bin aufgekratzt und auf der Hut. Bis morgen soll der Meltemi mit acht Windstärken blasen.

Die Seereise schneidet Vergangenes und Zukünftiges auseinander, das Kontinuum der Zeit scheint aufgehoben. Mit der Küste geht auch das Gefühl für Zeit und Entfernung verloren, der Blick verliert sich im Unendlichen. Die Gegenwart und der Vordergrund machen sich breit. Unerträglich breit – du willst dich ihrer Unmittelbarkeit entziehen. Doch die üblichen Fluchtwegschneisen, die Um- und Ablenkwege sind weggeschnitten. Du kannst nicht aussteigen. Weil die Zeit nicht verstreichen will, meinst du, nicht voranzukommen. Du trittst ohnehin auf der Stelle. Es ist, als verliefe quer durch dein Gehirn eine Bremsmauer, auf die dein altes Tempo aufprallt. Die Langsamkeit macht Kopfschmerzen.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 2. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Ein Essay von Uwe Wandrey

Uwe Wandrey, Jahrgang 1939, lebt als Buchautor und freier Journalist in Hamburg oder auf der griechischen Insel Paros.

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Vita Uwe Wandrey, Jahrgang 1939, lebt als Buchautor und freier Journalist in Hamburg oder auf der griechischen Insel Paros.
Person Ein Essay von Uwe Wandrey
Vita Uwe Wandrey, Jahrgang 1939, lebt als Buchautor und freier Journalist in Hamburg oder auf der griechischen Insel Paros.
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