Meine Stunde Null

Ein US-Fotograf beobachtete über viele Jahre hinweg D-Day-­Veteranen bei ihren reminiszenten Reisen in die Normandie

Im Jahr 1974 hielt ich mich als junger Pressefotograf (ich war damals 28) kurz nach den französischen Präsidentschaftswahlen in Paris auf. Es war Anfang Juni, und ich hatte ein paar freie Tage. Wie die meisten Kinder der Baby-Boomer-Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden waren, hatte ich vom D-Day gehört, mir aber nie ernsthaft darüber Gedanken gemacht. Gemeinsam mit zwei befreundeten Journalisten beschlossen wir, in die Normandie zu den Stränden der alliierten Landung zu fahren und uns die Feiern zum 30. Jahrestag der Invasion anzusehen. Ich hatte zuvor zwei Jahre lang über den Vietnamkrieg berichtet, kannte eine ganze Reihe von Kriegsveteranen und nahm an, sie würden sich kaum von den Soldaten der früheren Generation unterscheiden. Womit ich gründlich falsch lag.

In diesen beiden Tagen wurde mir bewusst, dass Menschen ihrer Art mir sehr vertraut waren. Nie zuvor hatte ich mir klargemacht, dass die Männer, die ich als Kind gekannt hatte – mein Lehrer in der Highschool, der Apotheker an der Ecke, mein Gruppenführer bei den Pfadfindern –, allesamt dieser Generation angehörten und während des Zweiten Weltkriegs in der Armee gedient hatten. Und ich verstand in diesen wenigen Tagen auf sehr anschauliche Weise, was sie erduldet hatten und was aus ihnen geworden war.

Es gab Festbankette der kleinen Dörfer in der Normandie, um sich noch einmal für die Befreiung ihrer Städte zu bedanken, Defilees der gegenwärtigen Truppen als Zeichen des Respekts vor den Opfern ihrer Vorgänger und Feldgottesdienste auf dem großen amerikanischen Militärfriedhof bei Omaha Beach, wo Tausende von Soldaten begraben liegen.

Was mir beim Gespräch mit einigen Veteranen auffiel, war, dass die Landung am Tag der Invasion und die anschließenden Kämpfe auf französischem Territorium für praktisch alle von ihnen das denkwürdigste und bedeutendste Ereignis ihres Lebens darstellte. Sie redeten alle liebevoll von ihren Familien und oft voller Begeisterung von ihren Berufskarrieren (sie waren alle in den Fünfzigern), aber nichts schien die einzigartige Bedeutung und den bleibenden Eindruck des D-Day zu besitzen.

Es war ein Einschnitt in ihrem Leben, etwas, an das jeder Einzelne sich mit einer Mischung aus Wehmut und Schrecken erinnerte. Mit Schrecken an die tägliche Mühsal des Krieges, an Zerstörung und Tod; mit Wehmut an die Bande der Freundschaft und das Gefühl, etwas unter schwierigsten Bedingungen vollbracht zu haben. Ich verließ das Veteranentreffen im Jahr 1974 (das letzte, an dem der ehemalige Fünf-Sterne-General und führende Kommandeur der Invasion Omar Bradley teilnahm) mit dem Gefühl, eine Geschichte fürs Leben gefunden zu haben: die Art Jubiläumsstory, die man über Jahrzehnte verfolgen musste, um den Bogen dieser einzigartigen Männer zu dokumentieren, wie sie sich Jahr für Jahr trafen, alterten und schließlich starben.

Die amerikanischen Veteranen neigten dazu, ihr Leben so zu leben, als gehörten sie einem Klub an: dem Klub der D-Day-Veteranen. Jeder durfte sich dazustellen und mit ihnen plaudern – sie konnten sehr lebhaft über diesen besonderen geschichtlichen Moment diskutieren –, aber nur andere Veteranen, die an den Kämpfen teilgenommen hatten und die Furcht und das Leiden kannten, konnten echte Mitglieder werden. Während jener Juni-Feierlichkeiten und anschließend im Abstand von zehn Jahren begleitete ich Gruppen amerikanischer Veteranen zuerst zu ihren damaligen Übungsplätzen in Großbritannien, setzte mit ihnen mit der Fähre über den Kanal und folgte ihnen auf ihrem Weg von den Stränden der Normandie nach Osten.

Am meisten beeindruckt war ich von jener Mischung aus außergewöhnlicher Hingabe und dem, was von den meisten Soldaten an den meisten Orten in den meisten Armeen gesagt wird: „Sie waren da für ihre Kameraden und Freunde.“ Korpsgeist bleibt eine der stärksten Bindungen, und ob sie nun als junge Soldaten über die Verpflegung oder die Unterkünfte geklagt oder einem Freund unter Beschuss beigestanden hatten, sie hatten es als eingeschworene Gemeinschaft getan. Solche Verbindungen lösen sich nur selten auf und reichen oft über ein Leben hinaus.

Von der ersten Reise in die Normandie an war offensichtlich, dass zwischen diesen Veteranen eine besondere Chemie herrschte; und das, verbunden mit der Beobachtung, dass sie sich als ganz normale Leute betrachteten, die bloß ihre Pflicht, also „nichts Besonderes“ getan hatten, vergrößerte nur meine Bewunderung für sie.

Aus dem Englischen von Georg Deggerich


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mare No. 103

No. 103April / Mai 2014

Text und Fotografien von David Burnett

David Burnett, 1946 in Salt Lake City geboren, lebt und arbeitet als Fotograf in Washington, D.C. Seine einzigartige Karriere als Fotojournalist begann er 1968, nach einem Abschluss in Politischen Wissenschaften am Colorado College. Seitdem arbeitete er hauptsächlich für Time und Life. Er fotografierte den Indisch-Pakistanischen Krieg, die Revolution im Iran und den Sturz Allendes in Chile. Er fotografierte Papst Johannes Paul II., die US-Präsidenten Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Reagan, Carter, Clinton und die Bushs. Er fotografierte Fidel Castro, Leonid Breschnew, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin.

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Vita David Burnett, 1946 in Salt Lake City geboren, lebt und arbeitet als Fotograf in Washington, D.C. Seine einzigartige Karriere als Fotojournalist begann er 1968, nach einem Abschluss in Politischen Wissenschaften am Colorado College. Seitdem arbeitete er hauptsächlich für Time und Life. Er fotografierte den Indisch-Pakistanischen Krieg, die Revolution im Iran und den Sturz Allendes in Chile. Er fotografierte Papst Johannes Paul II., die US-Präsidenten Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Reagan, Carter, Clinton und die Bushs. Er fotografierte Fidel Castro, Leonid Breschnew, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin.
Person Text und Fotografien von David Burnett
Vita David Burnett, 1946 in Salt Lake City geboren, lebt und arbeitet als Fotograf in Washington, D.C. Seine einzigartige Karriere als Fotojournalist begann er 1968, nach einem Abschluss in Politischen Wissenschaften am Colorado College. Seitdem arbeitete er hauptsächlich für Time und Life. Er fotografierte den Indisch-Pakistanischen Krieg, die Revolution im Iran und den Sturz Allendes in Chile. Er fotografierte Papst Johannes Paul II., die US-Präsidenten Kennedy, Johnson, Nixon, Ford, Reagan, Carter, Clinton und die Bushs. Er fotografierte Fidel Castro, Leonid Breschnew, Michail Gorbatschow und Boris Jelzin.
Person Text und Fotografien von David Burnett