In meinem Bekanntenkreis gibt es eine Menge Leute, die einen systemrelevanten Job haben. Darunter verstehe ich Jobs, bei denen man – zumindest in meiner Vorstellung – wenig zu lachen, dafür umso mehr Verantwortung und zu schuften hat. Es sind Jobs, für die ich wahrscheinlich gänzlich ungeeignet wäre.
Mir fallen spontan zwei ein: Kardiologin an einem Universitätskrankenhaus (meine Nachbarin) und Anwalt für Asylrecht (mein Vater).
Vor solchen Leuten habe ich großen Respekt. Sie sind so viel systemrelevanter als ich.
Vor einiger Zeit habe ich meine imaginäre Liste von systemrelevanten Jobs noch mal erweitert. Und zwar um einen, der gar nicht mehr existiert, aber der mich besonders berührt hat: der Job der Hallighebamme von Hooge. Obwohl er 1984 abgeschafft wurde, sprechen sie auf Hooge immer noch voller Dankbarkeit über die Frau, mit deren Hilfe sie einst geboren wurden.
230 Jahre lang hatte Hooge eine eigene Hebamme, eine respektierte Frau, neben Bürgermeister, Pfarrer und Lehrer die wichtigste Person der Hallig. Es waren Frauen, die sich bei jedem Wetter auf den Weg zu den Hooger Hausgeburten machten, bei Sturm, Schnee, Land unter, und unter widrigsten Bedingungen arbeiteten – bis 1969 ohne fließend Wasser, bis 1959 ohne Strom und ohne Arzt (den es bis heute nicht gibt). Und weil es auch keinen Bestatter auf Hooge gab, übernahmen sie dessen Aufgaben gleich mit. Leichen waschen, anziehen, pudern.
Hallighebammen waren niemals zimperlich.
Und sie wussten zu improvisieren. Einmal wurde Anni Both, die letzte Hallighebamme, sie war von 1957 bis 1984 im Amt, zu einer Zwillingsgeburt in ein Haus gerufen, das so feucht war, dass sie zu einer ungewöhnlichen Methode griff: Sie bat die Gebärende, einen Regenschirm zu halten – bis zum Schluss. Die Zwillinge kamen gesund zur Welt. Zwei Babys von mehr als 300, die Anni Both in ihrer Laufbahn entbunden hat.
Als die erste Hallighebamme um 1750 ihre Tätigkeit aufnahm, gehörte Hooge noch zu Dänemark. Weil die dänischen Behörden damals regelmäßig Volkszählungen durchführten, wissen wir, dass sie Ancke Hansen hieß, geboren 1716. Als Witwe musste sie von ihrem Sohn unterhalten werden, der als Steuermann zur See fuhr. Offenbar war das Geld so knapp, dass sie sich gezwungen sah, den damals noch ungeliebten Hebammenjob zu übernehmen.
Mit der Zeit gewann die Arbeit als Hebamme an Prestige, weil die Hooger merkten, dass man ohne sie nicht auskommt. Es entstand sogar eine regelrechte Hooger Hebammendynastie. Der Posten wurde wie ein Königstitel von Generation zu Generation vererbt: Dorothea Amalie Tadsen, ab 1850 Hallighebamme, übertrug ihn ihrer Tochter Emilie Pauline Jensen, die ihn wiederum an Tochter Ellewine Amanda Kühn weitergab, die letzte der Dynastie.
Mit einer Amtszeit von 30 Jahren (1916 bis 1946) war jene Ellewine Amanda Kühn die Angela Merkel unter den Hallighebammen. Tatsächlich sahen viele Hooger in ihr eine Art „Mutti“. „Bei kleineren Verletzungen, einem aufgeschlagenen Knie oder einem Splitter im Finger ging man zu ihr und ließ sich verarzten und trösten“, erinnert sich Enkel Hans Joachim Kühn.
Doch das Wichtigste war: Sie holte 160 Babys gesund auf die Welt, auf Hooge und auf den Nachbarhalligen.
Anerkennung dafür erfuhr Ellewine Amanda Kühn noch viele Jahre später, als sie schon längst pensioniert war. So heißt es in einem Artikel in der Frauenzeitschrift „Das Neue Blatt“ 1978: „Oft versah Ellewine Amanda Kühn ihren schweren Dienst, wenn gerade eine Flut drohte oder wenn das Land schon überspült war. Schlimm war es, wenn sie mit dem Segelboot nach den Halligen Langeneß und Gröde gebracht werden musste, zumal nachts und in den Wintermonaten, wenn sich das Boot mühsam seinen gefährlichen Weg bahnen musste. Während ihrer gesamten Dienstzeit musste nicht ein einziges Mal eine Frau auf das Festland in eine Klinik gebracht werden, weil während der Geburt Komplikationen auftraten. Die Hebamme Ellewine Amanda Kühn beherrschte ihr Handwerk so gut, dass sie auch ohne Arzt auskam.“
Was für ein Mensch, diese Frau Kühn. Besser kann man einen systemrelevanten Job wahrlich nicht machen.
Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
| Vita | Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland. |
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| Person | Von Jan Keith |
| Vita | Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland. |
| Person | Von Jan Keith |