Mein Nachname Keith gehört zu den wenigen Dingen, die ich an mir schon immer mochte. Er hat, wie ich finde, einen schönen Klang. Und sogar eine klangvolle Geschichte.
Der Name stammt nämlich aus Schottland, vom berühmten schottischen Keith-Clan. Wir Keiths haben bis heute ein Familienwappen und sogar einen Clan-Chief: Sir James William Falconer Keith of Urie, der 14. Earl of Kintore. Keith also. Es ist ein Name, über den meine Mitmenschen regelmäßig stolpern, weil sie nicht wissen, wie sie ihn aussprechen sollen. Ein unaussprechlicher, exotischer Name ist etwas, das mich begeistern kann.
Neulich ist mir mal wieder ein solcher begegnet, bei einer Beerdigung auf Hallig Hooge. Ingeborg Dell Missier hieß die Verstorbene, eine gebürtige Hoogerin. Dell Missier – diesen Namen hatte ich noch nie zuvor wahrgenommen. Aber die Grabsteine auf dem Friedhof verrieten mir: Dell Missier gehörte einst zu den häufigsten Namen auf der Hallig. Ich wurde neugierig: Wie hat der sich nach Hallig Hooge verirrt?
Was Namen betrifft, so erfuhr ich, waren die Hooger schon immer unkonventionell. Als die Friesen seit dem zwölften Jahrhundert in die Hooger Gegend einwanderten, nannten sie ihre Kinder nicht etwa Okko, Fiete oder Tede, wie man es von friesischen Siedlern erwarten würde. Ein erhalten gebliebenes Namensregister von 1622, in dem alle Hooger Hausbesitzer warftweise aufgeführt sind, belegt: Der beliebteste männliche Vorname der Hallig lautete damals schlicht Hans. Bei den Mädchen war es Maria, beides Namen hebräischer Herkunft.
Bei den Nachnamen herrschte zu dieser Zeit allerdings Chaos auf Hooge. Grund war die Tradition der patronymischen Namensgebung: Der Sohn bekam als Nachnamen den Vornamen des Vaters verpasst. Mein fiktiver Sohn Tede hätte im Hooge des 17. und 18. Jahrhunderts mit vollem Namen Tede Jansen geheißen und nicht etwa Tede Keith.
Für Ahnenforscher ist das eine Katastrophe. Für die damalige Verwaltung war es das offenbar auch. Sie schaffte es kaum noch, Steuern einzuziehen oder Eigentumsübertragungen bei Erbschaften vorzunehmen – bis schließlich der dänische König (Hooge gehörte zu Dänemark) diese Form der Namensgebung 1771 verbot.
Kaum war dieses Namens-Wirrwarr aus der Welt, erschufen die Hooger ein neues. Weil Hooger Kapitäne im ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem für niederländische Reeder arbeiteten, änderten sie kurzerhand ihre Namen ab: aus „Johannes Lorenzen“ wurde „Jan Lourens“, aus „Hay Nummensen“ „Hans Nomse“. Das erleichterte den Papierkram in Rotterdam und be-
feuerte die eigene Karriere.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte Hooge schließlich sein größtes Namens-Tohuwabohu. Für den Bau des neuen Hooger Deichs hatte es seinerzeit an Fachkräften vor Ort gemangelt, weshalb man bevorzugt Arbeiter aus den Bergen anwarb, aus Norditalien. Die wussten, wie man Findlinge für den Deich passgenau schneidet.
Ab 1911 lebten daher Dutzende italienische Steinschläger auf Hooge. Als der Deich 1914 fertig war, kehrten sie alle wieder zurück in ihre Heimatdörfer. Nur einer nicht: ein gewisser Giovanni Del Missier (noch mit einem L), geboren am 31. 12. 1887, aus der Ortschaft Tolmezzo in den Karnischen Alpen im Nordosten Italiens. Er hatte auf der Nachbarhallig Langeneß eine Frau kennengelernt, Hannchen Paulsen, sie geheiratet und sich mit ihr auf Hooge niedergelassen.
Die beiden bekamen vier Söhne, die wiederum acht, sechs und vier Kinder in die Welt setzten. Innerhalb weniger Generationen schnellte die Zahl der Dell Missiers in die Höhe – eine Art Superspreading-Event. In den 1970er-Jahren trugen 20 bis 25 Prozent der Hooger Einwohner diesen Nachnamen (inzwischen mit Doppel-L geschrieben). Hooge war italienisch geworden.
Nun aber naht das Ende der Dell-Missier-Ära. Die meisten sind gestorben oder aufs Festland gezogen. Nur noch drei Dell Missiers leben aktuell auf Hooge. Deicharbeiter Jan Dell Missier, 53, Enkel von Giovanni, ist der jüngste der drei. „Ich werde wohl eines Tages der letzte Dell Missier auf Hooge sein.“ Er sagt es mit einem Hauch Wehmut in der Stimme.
Doch das Italienische wird den Hoogern möglicherweise erhalten bleiben. Die Inhaberin des „Friesenpesels“ auf der Backenswarft hat nämlich einen Italiener namens Pezzi geheiratet. Die beiden haben einen Sohn. Wer weiß, vielleicht steht eines Tages das nächste Superspreading-Event an.
Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
| Vita | Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland. |
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| Person | Von Jan Keith |
| Vita | Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland. |
| Person | Von Jan Keith |