Mein Hooge, 15.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute wagt er den großen Wurf

Es muss in der fünften oder sechsten Klasse gewesen sein, als ich anfing, Sport zu hassen. Ich war ein halbjapanischer Junge, zart, leise und mindestens einen Kopf kleiner als die anderen Jungs in meinem Alter. Beim Fußball rannten sie mich einfach um. Beim Weitsprung sprangen sie weiter. Beim 50-Meter-Lauf liefen sie schneller.

Sosehr ich mich im Sportunterricht auch anstrengte, am Ende war ich immer der Gedemütigte. Seither suche ich eine Sportart, die zu mir passt. Eine, von der ich keine dauerhaften psychischen Schäden davontrage. Und tatsächlich, es scheint so, als sei ich jetzt fündig geworden. Sie heißt Boßeln und ist Hallig Hooges Sportart Nummer eins.

Beim Boßeln gibt es keine Rambos, die mich umrennen. Statt unbändiger Kraft ist die Gabe gefragt, den Wind und das Terrain zu lesen, die bessere Flugbahn zu berechnen. Boßeln ist schlicht und einfach: eine Weitwurf-Challenge, bei der auch Schwächere groß auftrumpfen können. Zumindest in meiner Vorstellung.

Die Hooger spielen es schon seit über 100 Jahren; ihr Boßel-verein „Nordsee“ wurde 1914 gegründet. Und seitdem haben sich die Regularien kaum verändert. Das Spielfeld ist die Wiese vor der Backenswarft, der Ball eine mit Blei beschwerte Hartholzkugel. Es gewinnt, wer am weitesten wirft.

Einzig die Wurftechnik ist beim Hooger Boßeln gewöhnungsbedürftig: Man muss sich mit ausgestrecktem Arm einmal um die eigene Achse drehen, ehe man die Kugel loslässt, sonst ist der Wurf ungültig. Sven Diedrichsen, 28, Juniorchef der Hooger Jugendwarft, bringt es mit dieser Drehwurftechnik auf stattliche 50 bis 60 Meter. Eine Weite, die ihm den inoffiziellen Titel des besten Boßelspielers von Hooge eingebracht hat. Diedrichsen hat eine einfache Erklärung für seinen Erfolg: „Ich spiele halt schon mein ganzes Leben lang.“

Tatsächlich bringen die Hooger schon ihren Kleinkindern das Boßeln bei. Jeder absolviert eine Art Boßelausbildung: beginnend mit der Viertelpfundkugel (Kita, Grundschule) über die Dreiviertelpfundkugel (Teenager, Frauen) bis zur Ein-Pfund-Kugel (Männer). Auf dem im Januar oder Februar stattfindenden Boßelfest zeigen sie ihr Können. Diedrichsen sagt: „Es gibt dann keine Touristen, keine Fremden, und weil man jeden kennt und zu nehmen weiß, ist es das schönste und friedlichste Hooger Fest.“

Diese Begeisterung hält – trotz Nachwuchssorgen – nun schon seit mehreren Generationen an. „Unsere Frauen sind sogar aktiver als die Männer“, sagt Diedrichsen. Sandra Wendt von der Ockenswarft etwa sei richtig gut, ebenso die 14-jährige Tochter der Petersens. Dabei war der Boßelsport ursprünglich eine dreckige Angelegenheit: Im mittelalterlichen Friesland gab es nämlich den seltsamen Brauch, sich gegenseitig mit Kleiklumpen zu bewerfen. Meist waren es Männer zweier rivalisierender Dörfer, die sich diese schmerzhaften Schlammschlachten lieferten.

Aus diesem chaotischen Kräftemessen entwickelten und verbreiteten sich dann gesittete Varianten des Sports, darunter das Boßeln. Schon zu Zeiten Theodor Storms gehörte es zum festen Bestandteil des nordfriesischen Dorflebens – im „Schimmelreiter“ (1888) lässt Storm nämlich seine Hauptfigur Hauke Haien beim Boßeln gewinnen und damit gesellschaftlich aufsteigen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, so erzählt man sich, brachten niederländische Deicharbeiter das Boßeln schließlich nach Hooge. Seitdem sind die Hooger Feuer und Flamme – und Diedrichsen der Mann, der für den Sport am meisten brennt.

Von ihm möchte ich es lernen. Vom Meister persönlich. Wir gehen hinaus, es stürmt und regnet. Skeptisch begutachtet er die Wiese vor der Backenswarft und sagt: „Bei diesem Wetter können wir nicht boßeln. Wir würden die Kugeln im Schlamm nicht wiederfinden.“ Er schnappt sich stattdessen eine große Kartoffel aus dem Sack im Schuppen, nimmt Anlauf, dreht sich und wirft. „Das waren 60 Meter, schätze ich“, sagt Diedrichsen. Beeindruckend.
Jetzt ich. Meine Finger umschließen krampfhaft die Kartoffel. Anlauf, Drehung, ich schwanke, dann lasse ich los. Die Schwerkraft drückt die Knolle nach gut 20 Metern nieder.

War das nun gut oder schlecht fürs erste Mal? Diedrichsen lächelt. Ich bin völlig durchnässt. Meine Ohren schmerzen vom Wind. „Besser, du kommst mal bei schönem Wetter.“ Ich weiß nicht, wie ich seine Antwort interpretieren soll. Aber irgendwie ahne ich: Meine Suche nach einer passenden Sportart ist noch nicht beendet.

mare No. 145

mare No. 145April / Mai 2021

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
Person Von Jan Keith
Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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