Mein Hooge, 13.

Unser Kolumnist reiste als Jugendlicher achtmal nach Hooge. Jetzt, nach 30 Jahren, erkundet er die Hallig erneut, als Erwachsener, als Stadtmensch, mit tausend Fragen im Gepäck. Heute schlüpft er gedanklich in die Hooger Tracht

Wenn ich mich morgens anziehe, brauche ich dafür kaum länger als zwei bis drei Minuten. Jeans, T-Shirt, Pullover, fertig.

Auf Hallig Hooge gibt es ein Kleidungsstück, für das man zwei bis drei Stunden braucht, um es anzulegen. Es handelt sich um die Hooger Tracht.

Bis vor Kurzem wusste ich noch nicht einmal, dass Hooge eine eigene Tracht hat. Wenn ich an Trachten dachte, sah ich vor meinem geistigen Auge pralle Dekolletés von Oktoberfestbesucherinnen, die zu viele Maß Bier getrunken haben.

Natürlich war mir klar, dass dies nur ein Klischee ist. Für meine schlichten Assoziationen schämte ich mich spätestens, als mir die Hoogerin Karen Tiemann von ihrer Tracht erzählte. Von den mächtigen Silberknöpfen, die schon die Kleidung ihrer Urgroßtante zierten. Vom opulenten Trägerrock, den sie sich eigens auf Föhr umnähen ließ, weil auf Hooge niemand mehr die alte Schneidertechnik beherrscht. Und von der silbernen Schließe für die Schürzen, die sie so gerne haben würde, die aber stattliche 700 Euro kostet.

Für Karen Tiemann ist die Tracht so wichtig wie für meinen sechsjährigen Sohn sein Fußballtrikot. Sie, die Tracht, ist ein Stück ihrer Identität.

Es müssen Menschen wie Karen Tiemann gewesen sein, die die Trachten, wie wir sie heute kennen, im 19. Jahrhundert erfanden. Um der Industrialisierung etwas entgegenzusetzen, holten seinerzeit viele Dorfbewohner die alte, bäuerliche Kleidung wieder aus ihren Schränken und hübschten sie auf, jede Region auf ihre Weise.

Auf Hooge war es nicht anders. Ab 1850 hatten sich die Hoogerinnen von den schweren, in Falten gelegten Stoffen und dem prächtigen Silberschmuck der Föhrer Tracht inspirieren lassen. Es entstand eine Art züchtiges Pendant zum bayerischen Dirndl. Also: kein pralles Dekolleté, sondern hochgeschlossen bis zum Hals. Kein freches Grün, Rot oder Blau, sondern gedeckte Erdtöne oder Schwarz (nur die Schürze ist oft weiß). Selbst die Haare verschwinden unter einem zwei mal zwei Meter großen Kopftuch.

Hooger Trachten sehen aus, als würden ihre Trägerinnen sittsame, coronagerechte Feste mit Mindestabstand feiern.

Getanzt wird natürlich trotzdem, aber mit einer vornehmen Zurückhaltung, die mir sehr vertraut ist. Ich kenne sie aus Japan, dem Heimatland meiner Großmutter. In all den Jahrzehnten habe ich meine Großmutter niemals berührt, kein Kuss, keine Umarmung. Und als ich sie an ihrem 88. Geburtstag in ihrer Tracht sah, einem dunkelblauen Kimono, wirkte sie noch einmal unnahbarer.

So ähnlich muss man sich das mit der Hooger Tracht vorstellen. Man würde aus Ehrfurcht und Respekt den Trägerinnen niemals zu nahe treten wollen. Trotzdem strahlen sie eine Wärme und Herzlichkeit aus, die jedes Fest aufwerten, wie es damals bei meiner Oma war.
Es sind nicht viele auf Hooge, vielleicht fünf oder sechs, die die Tradition pflegen. Dafür tun sie das mit Leidenschaft – bei Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten oder beim „Hooger Trachtensommer“. Die Frauen um Karen Tiemann waren sogar schon zu Gast bei der Landesgartenschau in Schleswig. Begleitet von Akkordeonmusik repräsentierten sie dort tanzend „ihre“ Hallig.

Gute Nerven brauchen die Hooger Trachtenträgerinnen allerdings auch, wenn es darum geht, die mehrere Kilo schwere (und 6000 bis 10 000 Euro teure) Gewandung anzulegen. Voll ausgestattet ist die Hooger Tracht ein solches Monster von Kleidungsstück, dass eine zweite Person zwingend beim Ankleiden helfen muss. Unbegabte Menschen wie ich bräuchten eine Gebrauchsanweisung, um die vielen Einzelteile in richtiger Reihenfolge und korrekter Weise anzuziehen: Trägerrock („Pai“), Kopftuch, Schultertuch, zwei gesonderte Ärmel, Schürze, Brustschmuck, kunstvoll besticktes Samtband („Raam“), rote Filzhaube für verheiratete Frauen („Hüüv“), abnehmbares Stoffteil am Pai („Slont“). Ein Ikea-Regal zusammenzubauen ist ein Klacks dagegen.

Ganz ehrlich, so eine Tracht wäre nichts für mich.
Das ging den Hooger Männern offenbar ganz ähnlich – für sie existiert nämlich erst gar keine entsprechende Garderobe. Weil sie früher meist zur See fuhren, trugen sie schon immer die Mode ihrer Zeit, die sie sich aus den Hafenstädten aus aller Welt mitbrachten. So entwickelte sich auf Hooge keine Männertracht.

Es geht halt nichts über Jeans, T-Shirt, Pullover. Meine Alltagstracht.

mare No. 143

mare No. 143Dezember 2020 / Januar 2021

Von Jan Keith

Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.

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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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Vita Jan Keith, Jahrgang 1971. Studium der Politikwissenschaft, Japanologie und Geografie in Bonn, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München. Bevor er im August 2008 zu mare kam, arbeitete er als Redakteur und Autor bei der Financial Times Deutschland.
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