Meeresschlösser und Geisterbrücken

Die Piers an Englands Südküste – architektonische Extravaganzen aus der großen Zeit des Empire

Die Grande Dame

Goldenes Abendlicht schimmert in der Meeresglätte, und seichte Wellen waschen leise gurgelnd Braunalgen und Muscheln über den Schotter. Quer zur verschwommenen Strandzeile liegen die Schattenumrisse der Eastbourne Pier in den gleißenden Spiegelflächen des Tidenschlamms. Im Wolkensilber spreizt sich die elegante Landungsbrücke in die glitzernde See. Ein kalter Wind heult durch die sparrigen Stelzen, und ein mächtiger Vogelschwarm wallt über die weißen Fassaden. Ein Blick auf den defekten Uhrenturm am Eingangsgebäude spricht Bände: Eine Zeit der Langsamkeit umfängt diese exklusive Seebrücke.

Die in den Wintermonaten verlassene Meeresburg mit ihren Norwegerhäuschen, königsblauen Holzkirchen und Fahnenstangen grätscht sich in die Brandung von Lichtjahren. Das Zwitschern von tausend Schwalben hängt dicht wie ein schriller Gobelin über Glasbläsereien, Blumengeschäften und Boutiquen, und klassische Musik aus versteckten Lautsprechern webt in den Souvenirarkaden säuselnd einen Klangteppich, der sich über den verstaubten Glanz eines weiland mondänen Casinorestaurants legt. Als endgültig die Schwärze der Nacht über Eastbournes Gestade hereinbricht, hüllen Schwaden leichten Nieselregens ein vergangenes Wintermärchen ein.

Das strähnige Strandgut der Gesellschaft schält sich auf seinen pagodenähnlichen Schlafbänken vor der erleuchteten Hotelfront aus schmuddeligen Wolldecken, während wohlhabende Ruheständler in den Lounges von einstigen Luxusherbergen Bridge spielen und über Zeitungen einschlafen. Später am Abend werden diese greisen Dauergäste durch verschachtelte Erkerfenster mit dicken Samtvorhängen auf die aristokratische Landungsbrücke hinausschauen, um ihren Erinnerungen an die Prosperität des Commonwealth nachzuhängen: Um die angestrahlten Fassaden des Meeresschlosses schlenkern klingelnde Glühbirnensäume wie Perlenketten um den schlanken Hals einer englischen Herzogin.


Die Schlafende

Ein leerer Musikpavillon steht als artifizielles Relikt auf der Uferpromenade, und der Blues von Brighton hat sich in den Nischen des Seebades eingenistet. Nirgendwo können diese traurigen Melodien besser wahrgenommen werden als über dem brüchigen Gehäuse der West Pier. Eine Aura der Schwermut hängt über dem von Vogelwolken verheerten Wrack der Seebrücke. Im düsteren Meeresgestade liegt wartend eine Externalisierung der menschlichen Seele und erweckt Mondsüchtigkeit und archaische Ängste, während die Gezeiten die Insektenbeine eines Tausendfüßlerskeletts umspülen.

Die Anatomie dieser Landungspromenade ist in der Verantwortung des Ingenieurs Eugenisus Birch (1818–1884) mit vier symmetrisch vermessenen Kiosken entworfen worden. Spätere Aufbauten ergänzten ihre Silhouette durch den Charakter von mittelalterlichen Kathedralen, orientalischen Serails und zeitgenössischen Lustpavillons. Eine zweistöckige Wandelhalle beschließt die 300 Meter lange Eisenkonstruktion und vermittelt mit ihren deckartigen Bogengängen den Eindruck eines Mississippidampfers. Der Schriftzug „West Pier“ prangt wie ein Schiffsname in stumpfen Lettern über den Eingangstoren.

Seit im September 1975 das maritime Kunstwerk zur „dangerous structure“ erklärt wurde, liegt der grazile Körper der West Pier entblößt in der Strandlinie. Der kleine Orchestersaal am äußeren Ende der Landungsbrücke ist bereits vor Jahren ins Meer gestürzt. Das lichtdurchflutete Gewirr der Stützverstrebungen trägt einen ausgehöhlten Eingangspalazzo und sein Kassenhäuschen, das brüchige Promenadendeck und die bizarren Wölbungen des morschen Terrassenpavillons. Ein letzter Kiosk behauptet sich schmiedeeisern über dem Glitzern der See.

Die somnambulente Seebrücke liegt seit Herbst 1996 auf der Intensivstation. Wo vorher Geisterseelen zu den Klängen eines elektrischen Klaviers in den leeren Casinos tanzten und auch heute noch ganze Vogelkolonien ihre Schlaf- und Nistplätze haben, existiert seit einigen Monaten ein Versorgungssteg für Werftarbeiter, die in orangenen Schwimmwesten rostige Brückenpfeiler schweißen. Der Brighton West Pier Trust hat sich vorgenommen, in einer ersten Phase die schlafende Prinzessin mit Mitteln der National Lottery bis zur Jahrtausendwende wiederzubeleben. Werden die Vergnügungsetablissements dieser Seebrücke die Stadt Brighton zukünftig in Techno-Klängen schwelgen lassen?


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mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Von D. Holland-Moritz und Heike Ollertz

D. Holland-Moritz, 1954 in Solingen/Rhld. geboren und Magister Artium der Dt. Philologie, lebt und arbeitet in Berlin. Seit Anfang der 80er Jahre ist er schriftstellerisch tätig

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare-Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare-Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare-Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.

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Vita D. Holland-Moritz, 1954 in Solingen/Rhld. geboren und Magister Artium der Dt. Philologie, lebt und arbeitet in Berlin. Seit Anfang der 80er Jahre ist er schriftstellerisch tätig

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare-Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare-Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare-Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
Person Von D. Holland-Moritz und Heike Ollertz
Vita D. Holland-Moritz, 1954 in Solingen/Rhld. geboren und Magister Artium der Dt. Philologie, lebt und arbeitet in Berlin. Seit Anfang der 80er Jahre ist er schriftstellerisch tätig

Heike Ollertz, geboren 1967 im Ruhrgebiet, ist aufgewachsen in Hamburg - fast am Elbstrand und immer mit dem Tuten der großen Pötte im Ohr. Sie ist mare-Fotografin der ersten Stunde. Für den ersten mare-Bildband umrundete sie Irlands Küsten. Nach einer Ausbildung am Berliner Lette Verein, studierte sie an der Universität der Künste in Berlin. Für internationale Magazine und Verlage fotografierte sie Reisereportagen in mehr als 30 Ländern. Seit ihrer Arbeit an dem mare-Bildband Island, beschäftigt sie sich intensiv mit den sichtbaren Spuren des Anthropozäns in Islands Landschaften. Heike Ollertz ist Mitglied der Agentur Focus und lehrt als Professorin für Fotografie an der UE University of Applied Sciences Europe.
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