Meeresrauschen über den Bergen

Wo heute die Schweiz liegt, schwappte einst ein tiefer Ozean: die Tethys. Paläontologen fanden ihre Spuren

Wie das Labor eines Meeresforschers sieht der Raum im Geologisch-Paläontologischen Institut der Universität Basel wirklich nicht aus. Etwas verstaubt ist er, bräunlich der Grundton und bis unter die Decke vollgestopft mit alten oder alt aussehenden Büchern und Katalogen. Auf den Tischen erdklumpengefüllte Plastiktüten und Petrischalen mit feinen Kieseln; Steine liegen überall herum. Wären da nicht die vor Zigarettenkippen überquellenden Muschelschalen hier und da – nichts würde an ein Meer erinnern.

Wie auch. Um ans Meer zu kommen, fahren Deutsche allenfalls durch, nicht aber in die Schweiz. Und doch liegt der Meeresgrund direkt unter uns. Statt mit Schnorchel und Schwimmflossen gehen die Basler Meeresforscher mit Hammer und Meißel auf Tauchstation daheim. Denn das Meer, das Urgeschichtler Lukas Hottinger und seine Kollegen erforschen, verschwand vor langer Zeit. Übrig sind allein die versteinerten Reste seiner Bewohner: Seelilien und Seeigel, Fischsaurier und Schildkröten, Korallen und Schwämme.

Langsam bläst Lukas Hottinger den Rauch seiner Zigarette in die Luft und lehnt sich zurück. Allen Ernstes beginnt er: „Es war einmal ein Meer ...“ Bereitwillig erzählt er die Geschichte eines Meeres, das lange vor unserer Zeit weite Teile der Erde überzogen hat – die Geschichte der Tethys.

Sie beginnt mit einem einschneidenden Ereignis des Erdaltertums: Der Superkontinent Pangäa (von griechisch gaea „Erde“), der vor etwa 250 Millionen Jahren noch alle heute sichtbaren Teile der Erde umfasste, zerbricht in Laurasien im Norden und Gondwana im Süden. Aus Gondwana entstehen später Südamerika, Afrika, Indien, Australien und die Antarktis, Laurasien umfasst das heutige Europa, Nordamerika und große Teile Asiens. Die Tethys begrenzt zunächst das gigantische Pangäa im Osten und schiebt sich nun keilförmig zwischen die Kontinentalplatten Eurasiens und Afrikas. Vor 245 Millionen Jahren trennt ein tiefer, schmaler Meeresarm das heutige Südeuropa von Afrika – der Vorläufer des Mittelmeeres.

Kein Name könnte passender für dieses urzeitliche Meer sein. Tethys war die Tochter des Himmels (Uranos) und der Erde (Gäa). Sie vermählte sich mit ihrem Bruder Okeanos, ihre über 3000 Kinder waren Flüsse, Seen und Quellen. Kein Wunder, dass ein Meer mit einer solchen Verwandtschaft Paläontologen auf der ganzen Welt in Atem hält. In seiner größten Ausprägung reicht es vom gesamten heutigen Mittelmeerraum über die – damals noch nicht existierenden – Alpen hinweg bis nach Schweden. Ihre Westküste zieht sich von Irland bis nach Spanien, und ostwärts hinterlässt sie Spuren bis ins Baltikum und in die Ukraine.

Blauer Rauch zieht durch den Raum der Basler Forscher, in dem die versteinerten Zeugen der Tethys den Mythos des Meeres spüren lassen. Asche füllt die Muschelschalen, rieselt zwischen die Fossilien. Zeit hat hier eine andere Dimension: nicht Jahre, Wochen oder Tage zählen, sondern Jahrmillionen.

Zunächst, vor etwa 254 bis 205 Millionen Jahren, schiebt sich die Tethys immer weiter zwischen die Kontinente und macht die Teilung von Gondwana und Laurasien perfekt. In der Schweiz herrscht zu dieser Zeit ein trockenes Klima. Nach und nach bildet sich auf dem nordeuropäischen Kontinent ein Grabensystem, durch das nun langsam Wasser aus einem nördlichen Meeresarm nach Süden vordringt.

Dann geht alles sehr schnell – zumindest aus erdgeschichtlicher Sicht: Schon 20 Millionen Jahre später erreicht die Tethys den Kontinent und überflutet schließlich auch die Schweiz. Paläontologen sprechen gerne von zwei verschiedenen Faunenprovinzen in dieser Zeit: Einerseits dringt die Tethys auf den Kontinent vor und bildet dort, wo heute das Schweizer Voralpenland liegt, ein Flachmeer mit typisch tropischer Fauna und Flora. Als Inseln ragen das französische Massif Central, das Rheinisch-Ardennische Schiefergebirge und Böhmen aus diesem Flachmeer. Andererseits entsteht in dem Gebiet der späteren Alpen durch das Auseinanderdriften von Laurasien und Gondwana ein offener Ozean. So sind es paläontologisch von Basel bis zur Tiefsee nur 200 Kilometer.

Die Sedimente aus dieser Zeit bestehen hauptsächlich aus schwarzem Tongestein. Schwarz deswegen, weil sich besonders viel totes organisches Material auf dem Meeresgrund ansammelte. Im Schweizer Juragebirge liegen in den Gesteinsablagerungen dieser Zeit besonders gut erhaltene Fossilien. Sie sind kaum verwest und scheinen nicht transportiert worden zu sein. Die bituminösen Schichten deuten auf hohe Nährstoffkonzentrationen, die vermutlich zu einer hohen Planktonproduktion führten und eine artenreiche Nahrungskette nach sich zogen. Durch die hohe Zahl an Lebewesen in den oberen Meeresschichten, die von dort nach ihrem Absterben auf den Meeresboden sanken, wurde unten der Sauerstoff knapp. Die toten Tier- und Pflanzenreste konnten nicht mehr durch Bakterien zersetzt werden – sie blieben auf dem Meeresgrund liegen.

„Das ist auch der Grund, warum die Lebewelt dieses Meeres so genau bekannt ist“, erklärt Lukas Hottinger. „Bis zur Lebendgeburt der Fischsaurier ist alles dokumentiert, weil niemand am Boden war, der die Leichen fraß oder das Sediment durcheinander brachte.“

In den jurassischen Schichten der Schweiz wie auch in den Juragesteinen der Schwäbischen und Fränkischen Alb treten neben Wirbeltieren besonders Weichtiere sehr zahlreich auf: vor allem Muscheln, Schnecken und die urzeitliche Gruppe der Ammoniten, Vorfahren der heutigen Schnecken. In Süddeutschland, aber auch im Schweizer Jura, ist in diesen Schichten eine kleine Muschel namens Posidonia so häufig, dass nach ihr der für diese Region so charakteristische Posidonienschiefer benannt wurde. Aber auch Seelilien und erste Krebse sind Zeugen von der Artenvielfalt des frühen Jurameeres.

Überrascht hat die Paläontologen gerade die im Jura hohe Zahl von Ammoniten, entfernten Verwandten des Perlboots Nautilus, einem noch heute lebenden urtümlichen Tintenfisch mit äußerer Kalkschale. Denn die rasanten Schwimmer waren am Ende des Paläozoikums vor 250 Millionen Jahren, als Pangäa auseinanderbrach, beinahe ausgestorben – wie viele andere damalige Tiergruppen auch. Nur die Gruppe der sogenannten Ophiceraten überleben das Massensterben. Warum, bleibt ein Rätsel, denn groß unterscheidet sich diese Gruppe nicht von anderen Ammonitenarten. Einig sind sich die Paläontologen aber darin: Die später entstehenden Ammonitenarten stammen von dieser Gruppe ab. Wegen ihrer Häufigkeit nutzen Paläontologen die Ammoniten als Leitfossilien, mit denen sie die erdgeschichtliche Epoche bestimmen, aus der ihre Sedimentproben stammen.

Auch die fortschreitende Öffnung der Tethys verscheucht die Ammoniten nicht aus dem Gebiet der Schweiz. Und das, obwohl sich im Laufe der Jahrmillionen die Strömungsverhältnisse des Meeres drastisch ändern. Wie sehr sich diese Strömungsverschiebungen auf die Nährstoffzufuhr auswirken, zeigen die viel helleren Ablagerungen im Juragebirge aus der Zeit des Dogger vor etwa 165 Millionen Jahren. Tiere, die nach ihrem Tod auf den Meeresgrund sinken, werden zersetzt und bleiben nicht als Bitumen auf dem Meeresboden liegen. Die unteren Meeresschichten enthalten mehr Sauerstoff.

Die Lebensbedingungen dieser Zeit müssen denen rund um die heutigen Bahamas sehr ähneln. Bereits vor 240 Millionen Jahren hatten sich die ersten modernen Korallenriffe gebildet. Hexakorallen, die wie die heutigen Arten durch sechs Kammern in ihrem Körper gekennzeichnet sind, gründen nun zunächst Kolonien und wachsen zu kalkbildenden Riffen aus. In den Alpen und im Juragebirge sind noch heute die klassischen Riffbänke zu erkennen. In größeren Wassertiefen übernehmen Schwämme die Rolle der Riffbildner. Beide Tiergruppen beweisen, dass das Jurameer in dieser Zeit ein tropisches Flachmeer ist. Besonders Korallen benötigen warmes Wasser und viel Licht.


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mare No. 10

No. 10Oktober / November 1998

Von Julia Thiele

Julia Thiele, Jahrgang 1971, studierte Biologie und Empirische Kulturwissenschaften in Tübingen. Zur Zeit promoviert sie über die Geschichte der Genetik in Ungarn und arbeitet als freie Journalistin in Köln

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Vita Julia Thiele, Jahrgang 1971, studierte Biologie und Empirische Kulturwissenschaften in Tübingen. Zur Zeit promoviert sie über die Geschichte der Genetik in Ungarn und arbeitet als freie Journalistin in Köln
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Vita Julia Thiele, Jahrgang 1971, studierte Biologie und Empirische Kulturwissenschaften in Tübingen. Zur Zeit promoviert sie über die Geschichte der Genetik in Ungarn und arbeitet als freie Journalistin in Köln
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