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Spiegel des freien Menschen 
Dem Dänen Anton Melbye wurde wegen Sehschwäche die Lehre zum Matrosen verwehrt. Stattdessen wurde er: Maler

„Das Seestück im 19. Jahrhundert erweist sich als Spiegel des modernen Menschen.“ Zu diesem Schluss kommt Regine Gerhardt nach mehr als 450 Seiten über Leben, Œuvre und Wirkung des dänischen Künstlers Anton Melbye (1818–1875). Ihnen folgen noch einmal mehr als 200 Seiten Fußnoten, denn es handelt sich bei der vorliegenden Monografie um die Dissertation der 2018 verstorbenen Kunsthistorikerin, die bereits 2017 die große Melbye-Retrospektive im Altonaer Museum kuratiert hatte. 

Doch dieser Kaventsmann von Buch ist nicht nur als Standardwerk für die Fachwelt von Bedeutung. Auch für eine breitere, an Kultur, Kunst, Politik und ­Gesellschaft interessierte Öffentlichkeit gibt es in dieser Schatzkiste einiges zu ­ent­decken, das über die bloße Kontextualisierung einer einst als bedeutend ­geltenden Künstlerpersönlichkeit hinausgeht. 

Seine Anfänge lesen sich abenteuerlich: Geboren in Kopenhagen als Sohn eines Zollbeamten und ehemaligen Leutnants und aufgewachsen in Helsingør, wünscht sich der junge Melbye ein Berufsleben zur See, muss darauf aber wegen einer Sehschwäche verzichten. Er beginnt stattdessen eine Ausbildung an der Schiffskonstruktionsschule, die er jedoch abbricht. Nach einem Intermezzo als Musiker wird er Privatschüler des einflussreichen Kunstprofessors Christoffer Wilhelm Eckersberg, mit dessen Idealen er aber bald schon bricht. Doch nicht allein die Auseinandersetzung mit den strengen Lehren seines Meisters, seine Vorbilder in der niederländischen Barockmalerei und sein norwegischer Kollege Johan Chris­tian Clausen Dahl beeinflussen ihn in jener Zeit, auch eigene Seereisen beginnen ihn und sein Werk zu prägen. 

An Bord der Korvette „Flora“ und des Linienschiffs „Christian VIII“ bereist er 1841 Ost- und Nordsee und gelangt 1844 mit einer dänischen Flottille ins Mittelmeer, wo er nicht nur der landschaftlichen Schönheit der Küstengebirge begegnet, sondern auch auf die Schrecken des Marokkanisch-Französischen Kriegs trifft. Weitere Reisen bringen ihn am Vorabend des Krimkriegs bis an den Bosporus. Es folgen Anerkennung am französischen und osmanischen Hof, eine wechselvolle Beziehung zur dänischen Heimat und zwischendurch auch eine wirtschaftlich und gesellschaftlich erfolgreiche ­Existenz in Hamburg, wo er an der noblen Binnenalster residiert. 

Von der exakt beschriebenen Darstellung seiner Maltechnik und profunden bild­analytischen Beschreibungen über Einblicke in den Maschinenraum der Kunstwelt bis hin zu vielfältigen Aspekten der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts erstreckt sich das Spektrum des reichhaltigen, gut lesbar aufbereiteten Materials. Einer der Schwerpunkte liegt dabei auf einem seiner damals bahn­brechenden Motive: der „Meereseinsamkeit“, die sowohl auf Schiffe und jedes ­andere Anzeichen menschlicher Präsenz als auch auf einen rettenden Küstenstreifen verzichtet und somit die Betrachter existenziell konfrontiert. Das Meer, auf dem sich bei Melbye ansonsten historische Seeschlachten vor Helgoland oder in der Køgebucht und bisweilen allegorische Schiffbrüche ereignet hatten, erscheint nun selbst als „kraftvolles Gleichnis und zugleich unbeherrschbarer Gegenpart des leidenschaftlichen Ichs“. Aus einem naturalistischen Könner der mari­timen Feinmalerei wird ein Wegbereiter der Moderne mit symbolistischen Anklängen, dem es gegen Ende seines vielfältigen schöpferischen Lebens in seinen nordjütländischen Skizzenbüchern sogar gelingt, versuchsweise die Linie von der Form zu befreien und den Beginn einer anderen Epoche anzudeuten. 

Ausgeleuchtet werden alle relevanten Stationen seines bisweilen verschlungenen Wegs. Diese sind zahlreich, aber in sich interessant genug: Die komplexen Wechselwirkungen zwischen den Selbstinszenierungen höchster Politik und kultureller Produktion werden ebenso zum Thema wie die Distinktionsstrategien des gehobenen Hamburger Bürgertums; Melbyes Interesse an heute obskur anmutenden Phänomenen wie dem „Mesmerismus“ findet ebenso seinen Platz wie kluge Überlegungen zu den Querverbindungen zwischen seiner Kunst und der ­Literatur. So eröffnen dann auch die Worte Charles Baudelaires dieses fulminante Werk: „Du freier Mensch, du liebst das Meer voll Kraft, / Dein Spiegel ist’s.“  Gunnar Lützow

Regine Gerhardt: „Anton Melbye und das Seestück im 19. Jahrhundert“, Hatje Cantz, Berlin, 2023, 664 Seiten, 38 Euro


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 162. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

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mare No. 162Februar / März 2024

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