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Vokale, in den Wind gesprochen
Was hat das Meer mit dem griechischen Alphabet und dem Blues zu tun? Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit hat eine Idee dazu

mare: Das griechische Vokal­alphabet, aus dem sich das altitalische, etruskische und schließlich lateinische Alphabet entwickelt hat, ist das Thema Ihres neuen Buchs. Wie kamen Sie dazu?
Klaus Theweleit: Hintergrund ist der seit Jahrhunderten auf vielen Feldern laufende Streit über die Herkunft unserer sogenannten abendländischen Kultur. Ist sie in ihrem Kern mehr griechisch, mehr jüdisch, mehr orientalisch oder noch anders bestimmt? Einigkeit besteht nur darin, dass die Durchsetzung des Vokalalphabets ab circa 800 vor Christus eine entscheidende Rolle darin spielt.

Sie sind nicht der Erste, der sich mit der Entstehung des Vokalalphabets beschäftigt hat. Im 2006 erschienenen Buch „Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie“ wird die These vertreten, dass die Vokalalphabetisierung eine Leistung der alten Griechen war.

Die zwei Herausgeber des Bandes, Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst, sehen diese als spezielle Leistung des Autors ­Homer, der zum Zweck der Niederschrift der Ilias dieses Alphabet erfunden und angewandt habe in der Versform des Hexameters. Die Gründe, aus denen ich dieser Sicht, was den Erfinder-Autor Homer betrifft, eher nicht folge, lege ich dar im Buch. Mit dem Hexameter sieht es anders aus – die Versform spielt eine entscheidende Rolle bei der Erfindung und Durchsetzung des griechischen Vokalalphabets im gesamten Mittelmeerraum zwischen dem siebten und vierten Jahrhundert vor Christus.

Sie schreiben, gestützt auf einschlägige Forschung, dass der Hexameter weit vor Homer entsteht; dass es große orientalische Einflüsse bei ihm gibt; dass die Kolonisierungsbewegungen, in denen sich Sprachen vermischen, eine Rolle spielen bei der Entwicklung des Vokalalphabets. Ihre eigene These ist, dass dabei der Seefahrt besondere Bedeutung zukommt.  

Die vier Jahrhunderte nach der Zerstörung Trojas um 1230 vor Christus durch die sogenannte Palastkultur der mykenischen Griechen gelten allgemein als die „dunklen Jahrhunderte“ Griechenlands, weil es so gut wie keine schriftlichen Dokumente aus dieser Zeit gibt, insbesondere keine literarischen oder historischen, sondern nur Handels- und Verwaltungs­dokumente in der altkretischen Schrift ­Linear B, die von den Griechen übernommen worden war. Aber natürlich kommunizierten die Griechen untereinander, und zwar überwiegend mündlich.

Und dabei spielte die Seefahrt die entscheidende Rolle? 

Glücklicherweise sind wir nicht nur auf Schriftliches angewiesen, wenn es um die Geschichte von Menschheitsphasen geht. Es gibt Archäologen, Architekten, Biologen, Chemiker, Nautiker. Eines ihrer Ergebnisse, kurz zusammengefasst: Das griechische Mykene geht in der Zeit nach 1200 vor Christus zugrunde. Ihr Herrschaftsgebiet, der Peloponnes, wird in den folgenden Jahrhunderten zu großen Teilen entvölkert. Mehr als die Hälfte der Bewohner verlässt das Land und geht auf See, verteilt sich über Tausende von Inseln in der Ägäis in vielen kleinen Königtümern oder kolonisiert Küsten. Das zieht sich über 400 Jahre – an deren Ende das Vokalalphabet erscheint; das bildete in mir den Gedanken, seine Entstehung müsste irgendetwas mit der Seefahrt zu tun haben. Zumal ein staatliches Gebilde namens Griechenland ja nicht mehr exis­tierte. Sie hingen nur noch durch ihre gemeinsame Sprache zusammen.

In Ihrer Vorstellung wurde das Vokal­alphabet von griechischen Händlern, Seefahrern und Piraten erfunden, damit sie sich zwischen Wind und Wellen besser verständigen können. Stimmt es, dass Sie den entscheidenden Hinweis Ihrer Frau zu verdanken haben, die von Sylt kommt?

Als ich mit meiner Frau darüber sprach, das Entstehen dieser neuen Vokalität erklärbar zu machen, sagte sie spontan: Aber ja, von Sprache, über das Wasser gerufen, kommen nur die Vokale an. Konsonanten gehen unter in Winden-, Ruder-, Segel- und Seegeräuschen. Und wer immer sich mit Meer auskennt, hat das in der Folge bestätigt. Friedrich Kittler hat das auch experimentell nachgewiesen an den Inseln, vor deren Ufern Odysseus am Mast den Sinn des Singens der Sirenen verstanden haben will. Das allein hätte aber noch nicht gereicht als Erklärung dafür, dass hier ein neues Medium entstand. Es musste irgendwann ein Vorgang hinzugekommen sein, der eine bestimmte Aussprache der Vokale normiert hat. Aus den Büchern über die frühe griechische Seefahrt, die ich dazu las, schälten sich Rituale heraus. So sollte jedes Schiff, das bestimmte Pläne verfolgte, sich hierfür den Segen einer der Orakelstätten abholen. Hier trafen das ganze Jahr über griechische Schiffe aufeinander – durch nichts verbunden als die Sprache, eine gemeinsame Vergangenheit auf dem Peloponnes und den Sieg über Troja. Diesen Sieg zu besingen war im Lauf der Jahrzehnte ein gemeinsames Verfahren geworden. „Zu besingen“ ist dabei keine ­poetische Metapher. Die Texte wurden tatsächlich gesungen, sowohl an Bord der Schiffe wie auch bei jedem Treffen der Griechen. Fast alle Schiffe führten einen Sänger an Bord, den Aoiden. An jeder Orakelstätte traten diese Sänger auf und übten sich im Wettstreit. Hier wird nun der Hexameter zentral.

Sie sagen, die poetische Rhythmisierung sei Voraussetzung für die gehirnliche Speicherung von Ereignissen.

Ja. Die aktuelle Forschung sagt, dass mündlich Weitergegebenes sich höchstens 90 Jahre erhält. Dann wird es überschrieben, umgemodelt, verändert. Ausnahmen sind Gebete und poetisch rhythmisch Festgehaltenes. Poetisch rhythmisch festgehalten werden die Gesänge der Aoiden an Bord der griechischen Schiffe, und zwar in der Hexameterform. Diese garantiert, dass die Griechen auf See die Troja-Erzählung über 400 Jahre aufrecht­er­halten, bevor Homer sie in der Ilias schriftlich niederlegt.

Sie haben selbst biografische Verbindung zum Meer – wuchsen in Schleswig-Holstein auf und studierten in Kiel Germanis­tik und Anglistik, wo Sie auch auf einer Werft arbeiteten. Welche Bedeutung hat das, wenn Sie über das Meer schreiben?

Das hat kaum eine Bedeutung. Als Student auf der Howaldtswerft zu jobben macht noch keinen Seemann aus einem. Mit 15, 16 Jahren hab ich mal fantasiert, zur See zu gehen. Als ich dann las, auf der Nordsee im Winter würden einem die Hände an der Reling festfrieren, ließ ich lieber die Finger davon. Aber wir sind, da meine Frau die Freiburger Hitze nicht aushält, regelmäßig längere Zeit auf Sylt. Mein Meerkontakt – schwimmend sowie optisch – ist gut intakt.

Ihr Werk als Ganzes zeichnet sich durch eine besondere Freiheit aus. Ihnen wurde schon als junger Wissenschaftler eine „ungezügelte Intelligenz“ zugeschrieben. Bei Ihnen ist es nie weit von den alten Griechen zur Nouvelle Vague, zu Godard, zu Pasolini, zu William Turner, zu Herman Melville, zu Hokusai, zu Herbert Achternbusch, zu Heidegger, zu James Baldwin, zu Frantz Fanon und zum Blues, den Sie als Hobbymusiker selbst spielen.

Die Entwicklung des Hexameters, der in den Augen vieler zur Grundlage unserer heutigen Kultur geworden ist, hat circa 400 Jahre kollektiver Arbeit in Anspruch genommen. In meiner Wahrnehmung ist diese griechische Dominanz aber nicht mehr gegeben. Für mich ist die Grundlage unserer heutigen Kultur – spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg – die Musik der amerikanischen Schwarzen, begonnen in Sklavengesängen, aus denen der Blues wurde. Dessen Entwicklung zur Zwölf-Takt-Form hat etwa 300 Jahre gedauert, amerikaweit und dann weltweit durchgesetzt über das Radio, den „Homer des Blues“ sozusagen. Diese beiden Vorgänge setze ich in Verbindung. Black Music ist die Grundlage der Körperlichkeit der nach dem Krieg Aufgewachsenen.

Ihr Buch schließt mit einem recht maritim ausgefallenen Songverzeichnis, es ist auch eine Reise aus der griechischen Meereswelt zu den Gestaden des „Black Atlantic“, zum Strom der Kulturen seit der Verschleppung afrikanischer Völker in die Neue Welt, zu den flottierenden Kulturen in der Diaspora. Was der Blues mit dem Vokalalphabet der griechischen Seeleute zu tun hat, haben Sie ent­­wi­ckelt. Was verbindet die beiden für Sie?

Die Griechen haben kein eigenes Kernland, sind keine Nation, als sie das Vokalalphabet entwickeln, so wenig wie die nordamerikanischen Schwarzen auf ihrem Weg zum Blues, ihrem Weg ins „Gelobte Land“. Beide Kulturbewegungen entstehen in der Diaspora, so ist das meiner Wahrnehmung nach mit so gut wie allen bedeutenden Kulturveränderungen. Sie entstehen mehr oder weniger in Exilen. Nun gibt es Menschen, die in den einbrechenden Erstarrungen solcher historischer Umwälzungen behaupten, immer schon da gewesen zu sein, wo sie sind. Sie sind offenkundig dazu da, die Schönheiten solchen Wandels nicht nur nicht zu bemerken, sondern zu zerstören. 

Das Gespräch führte Marc Peschke

Klaus Theweleit: „a-e-i-o-u. Die Erfindung des Vokalalphabets auf See, die Entstehung des Unbewussten und der Blues“, Matthes & Seitz, Berlin, 2023, 287 Seiten, 28 Euro

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mare No. 160Oktober / November 2023

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