117 000 Kilometer Küstenlänge
Die Gestade Europas sind die Erzählstränge seiner Geschichte. Eine Berliner Ausstellung wagt das Mammutprojekt, sie zusammenzuführen
Die politisch fragwürdige Erfolgsgeschichte und der Reichtum Europas in der Neuzeit beinhalten viel mehr als eine sprunghafte Erweiterung des europäischen Horizonts durch Expeditionen, Handel und Eroberungen. In einer umfangreichen Ausstellung legt das Deutsche Historische Museum ein weitläufiges Netz aus, das die kulturgeschichtlichen, wissenschaftlichen und politischen Folgen der Seefahrt miteinander verknüpft. Eine antike Terrakottafigur eröffnet die Schau: Die von Zeus in Gestalt eines Stieres umworbene phönizische Prinzessin Europa wird über das Meer nach Kreta verschleppt.
Elf europäische Hafenstädte stehen exemplarisch im Fokus: Piräus, Lissabon und Sevilla als Zentren antiken und neuzeitlichen Wissens, Amsterdam wegen des Schiffsbaus, Danzig und London stehen für Hanse und Industrialisierung. Am Beispiel der Hafenstadt Nantes, die bis Mitte des 19. Jahrhunderts als Umschlagplatz für Sklaven aus Westafrika diente, wird der Menschenhandel als Quelle des europäischen Reichtums sichtbar. Erschütternde Dokumente berichten vom Status des Menschen als Ware: Eine vom Reeder in Auftrag gegebene Zeichnung zeigt verschiedene Decks eines Schiffskörpers, in dem versklavte Menschen wie Ölsardinen geschichtet werden, während auf der gleichen Seite Rechenschaft abgelegt wird über Ausgaben und erzielte Preise. Ein akribisch geführtes Bilanzbuch behandelt Menschen nicht anders als mobile Sachen – als solche galten sie rechtlich auch. Hier sprechen die Exponate für sich.
Man kann wie auf der Portolankarte des 14. Jahrhunderts (gezeigt wird die Wiederentdeckung der Kanarischen Inseln) nur in der Originalgröße die Einzelheiten erkennen und in ihrer Tragweite zuordnen. Expedition, Handel und Unterwerfung der „entdeckten“ Gebiete gehen Hand in Hand. Man profitiert als Europäer immens von fremdem Wissen und Können, aber es sind keineswegs Begegnungen auf Augenhöhe. Die Republik Venedig, auf dem Höhepunkt ihrer Seemacht vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, unterstreicht dies bereits in ihrer Sicht vom Markuslöwen als Stadtsymbol: Anders als in der christlichen Bilderwelt üblich, wird er auch mit Schwert und Krone versehen.
Gegenstand der Schau ist auch die akute Gefährdung des Meeres durch Industrie und Konsumverhalten: Schwimmenten aus Plastik, die von einem havarierten Schiff ins Meer gespült wurden, strandeten weltweit an den Küsten. Zu Forschungszwecken gesammelt und geortet, ließen sich so auf einer Karte Strömungsverhältnisse auf offener See sowie das geografische Ausmaß lokaler Verschmutzungen erkennen.
Die Geschichte des Tourismus beginnt in Brighton, sie wird anhand von Plakaten, Ansichtskarten und Bademode erzählt. Ein Exkurs gilt den nationalsozialistischen Seebädern, der Antisemitismus manifestierte sich dort schon früh. Die Auswanderung aus Europa nach Übersee und aktuelle Migranten- und Einwandererschicksale aus den Krisengebieten der Welt zeigen die zweifache Migrationsgeschichte: Die Ströme fließen, historisch betrachtet, in beide Richtungen. Die Ausstellung, für die man Zeit und Muße mitbringen sollte, endet mit einem Blick in die Malerei der vergangenen 200 Jahre: Das Meer verheißt hier Aufbruch, Freiheit und Glück und bleibt doch unberechenbares Gegenüber. Andrea Gnam
Deutsches Historisches Museum Berlin: „Europa und das Meer“, Ausstellung bis 6. Januar 2019, www.dhm.de. Katalog, herausgegeben von Dorlis Blume, Christiana Brennecke, Ursula Breymayer und Thomas Eisentraut, Hirmer, München, 2018, 448 Seiten, 415 Abbildungen, 35 Euro
Mehr als Kühe und plattes Land
Leeuwarden und die niederländische Provinz Friesland sind Kulturhauptstadt 2018 und planen große Kunst weit über das Jahr hinaus
Zwei Jahre lang hat der friesische Bildhauer Jan Ketelaar an dem Ensemble gearbeitet. Nun stehen die zwei fünf Meter hohen metallenen Frauen, eine mollig, eine dünn, gemeinsam auf dem Holwerder Deich. „Warten auf Hochwasser“ heißt die Skulptur, die auf die Interaktion zwischen Menschen verweist, aber auch auf den Einklang zwischen Mensch und Natur. Sie ist Teil des Projekts „Sense of Place“, das der Niederländer Joop Mulder verantwortet.
Bis 2017 brachte der Kulturmanager auf der Insel Terschelling beim Theaterfestival Oerol internationale Kulturakteure und Zehntausende Besucher zusammen. Nun koordiniert er für die Europäische Kulturhauptstadt Leeuwarden Künstler, die längs der Nordseeküste Werke installieren. Bis zu 50 sollen es in den nächsten zehn Jahren werden, Mulder will sukzessive deutsche und dänische Küstenorte mit einbeziehen. Damit zollt er der Tatsache Tribut, dass das Wattenmeer seit 2009 Unesco-Weltnaturerbe ist, das erste grenzüberschreitende überhaupt.
„Sense of Place“ ist eines von 60 Großprojekten, mit denen die Provinz Friesland zeigen will, dass sie mehr zu bieten hat als Kühe und plattes Land. Ihre Hauptstadt Leeuwarden liegt 30 Kilometer von der Küste entfernt. Dass die knapp 109 000 Einwohner zählende Kommune gegenüber starken Konkurrenten wie Utrecht oder Den Haag den Titel für sich verbuchen konnte, hat mit ihrer Philosophie zu tun.
Das Kulturhauptstadtmotto lautet „iepen mienskip“ – offene Gesellschaft. Künstler, Landwirte, Energieexperten, Wissenschaftler und Anwohner waren aufgefordert, Ideen einzubringen. Auch Mulder warb bürgernah in Kneipen für sein Vorhaben, so erfuhr er beispielsweise von Bewohnern der Küstengemeinde Wierum, dass diese von einem Ort zum Schwimmen träumten. Die strikten Weltnaturerbe-Bestimmungen machen dies nicht möglich. Nun soll es in naher Zukunft mit der Installation „De Kromme Horne“ am Ende eines hölzernen Piers ein Gezeitenbad geben, das im Einklang mit der Natur Wasserlöcher und Priele schafft.
Dass das Element Wasser bei der Planung eine große Rolle spielte, wundert nicht, liegt doch fast die Hälfte der Provinz unter dem Meeresspiegel. Entsprechend ist auch das „Elf Brunnen“-Projekt von Anna Tilroe auf Wasser gebaut. Hierfür musste die Kuratorin in den Bürgerkomitees viel Überzeugungsarbeit leisten. Dem einen war der entworfene Brunnen zu groß, dem anderen passte der vorgesehene Standort nicht, der Dritte kritisierte, dass kein friesischer Künstler zum Zug kam. Schließlich haben für das Projekt Künstler aus aller Welt elf Brunnen in elf friesischen Städten entlang der historischen, gut 200 Kilometer langen Eislaufroute gestaltet. „Die Brunnen schaffen eine neue Verbindung zwischen den Städten“, so Tilroe. „Elfstedentocht“, das traditionelle Langstreckenrennen auf zugefrorenen Kanälen und Seen, fand 1997 zum letzten Mal statt. Die Winter werden zu warm, die Eisdecke erreicht die Mindestdicke von 15 Zentimetern nicht mehr.
Den Klimawandel direkt thematisiert das Künstlerpaar Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla aus Puerto Rico. Ihr wasserspeiender Pottwal ist lebensgroß im Harlinger Hafen zu sehen, als sei er dort eben gestrandet. So wie alle Brunnen und viele der Installationen bestehen bleiben sollen, wird auch er hier ewig ruhen. Cornelia Ganitta
Europäische Kulturhauptstadt Leeuwarden-Friesland 2018, www.friesland.nl/de/ kulturhauptstadt-2018, www.sense-of-place.eu
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