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Empfehlungen aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Verstörendes Hintergrundrauschen
Die 72. Berlinale schlug Wellen, allein schon, weil sie stattfand. Und das Meer spielte viele Rollen in Vergangenheit und Gegenwart

Ob Berlin mit vielen Menschen ein Filmfest feiern dürfe, war die allgegenwärtige Frage der Berlinale 2022. „In Zeiten wie diesen“, fügten die Mahnenden hinzu, nicht ahnend, dass die Zeit so schnell schon wieder eine andere sein würde. Dabei ist doch das Kino die beste Lehranstalt, um den Wandel der Welt nicht immer zu begreifen, aber zu erspüren. Um Blickrichtungen zu verdrehen und Gewissheiten infrage zu stellen. Wo die Welt ist, ist das Meer, dessen Hintergrundrauschen in den Filmen selten so unterschiedliche Rollen spielte. Aufrüttelnd und verstörend waren sie alle, harmonisch-­melancholisches Wellenspiel diesmal nicht im Angebot.

Im österreichischen Film „Rimini“ (Regie: Ulrich Seidl) ist das Seebad an der Adriaküste kein sehnsüchtig herbeigeträumtes Urlaubsziel, sondern, von Wind und Wetter zerzaust, eine Art Vorhölle für Richie Bravo, einen alternden Schlagerstar, der nur wenige bessere Tage erlebt hat. In grausam glänzenden Anzügen gibt er Play-back-Shows in Absteigen, deren Mobiliar ebenso einsam und vergeblich aufgedonnert vor sich hin altert wie Bravos letzte Groupies, die er auf und hinter der Bühne nicht mehr glücklich machen kann. In einem abgetragenen Pelzmantel stapft er am Strand entlang, besoffen und auf der Suche nach Geld für eine Tochter, um die er sich nie gekümmert hat. Vor vernagelten Buden frieren Flüchtlinge, das Meer ist nicht mehr als ein milchiger Streifen am Bildrand, schon lange keine Verheißung mehr für niemanden. Ob die Welt wirklich so abgewrackt ist, wie Seidl sie in seinen Filmen erzählt, mag man sich vorsichtshalber lieber nicht mehr fragen.

Der Blick zurück ist nicht nur für Richie Bravo einer auf unbequeme Wahrheiten. Weil sich die Gegenwart aus der Vergangenheit speist und immer klarer wird, dass keiner ihr entkommen kann, sind es oft die Wiederentdeckungen, die nicht nur das Gestern, sondern auch das Heute besser erklären. Und gleichzeitig künstlerischen Mut beweisen, den man im Zeitgenössischen bisweilen vermisst.
„West Indies ou les nègres marrons de la liberté“ (Regie: Med Hondo) war eine solche. Aus dem Jahr 1979 stammt der Film, der 400 Jahre französische Kolonialgeschichte als üppig ausgestattetes Musical erzählt. Als Bühne diente dem Regisseur aus Mauretanien das Modell eines Sklavenschiffs, auf dem getanzt, gesungen, rekapituliert, verhandelt und verurteilt wird. Ein sarkastisches, entlarvendes Spektakel entfesselt er darauf und forderte schon damals, was heute zögerlich in den Köpfen westlicher Kulturschaffender ankommt: dass die Geschichten Afrikas, seiner Bewohner und deren in die Welt verstreuten Abkömmlinge schon zu lange darauf warten, gehört zu werden.

Stumm und schwarz-weiß verhandelte ein weiteres Zeitdokument den Kampf der Unterdrückten. „Brüder“ (Regie: Werner Hochbaum) aus dem Jahr 1929 thematisiert den Streik der Hamburger Hafen­arbeiter 1896/97 und gilt als seltener Versuch, einen deutschen proletarischen Film zu schaffen. Seinerzeit wurde der Film von der Gewerkschaft und der SPD mit­finanziert und nicht in Kinos, sondern auf politischen Veranstaltungen gezeigt, mit dem Ziel, die Notwendigkeit der eigenen Agenda zu unterstreichen. Digital res­tauriert, feierte das Werk in Berlin Weltpremiere mit neu komponierter, eindringlicher Musik von Martin Grütter, intoniert von Mitgliedern der Berliner Philharmo­niker.
Wie die Dokumentation eines jetztzeitigen Orts über Töne, Bilder, Technik ganz anders als gewohnt funktionieren kann, demonstriert die kanadische Regisseurin Jacquelyn Mills in „Geographies of Soli­tude“. Auf Sable Island begleitet sie die dort seit Jahrzehnten lebende Forscherin Zoe Lucas zu wilden Pferden und endemischen Insekten, vergräbt Mikrofone im Sand, entwickelt Filmmaterial in Seegraslösungen. Ihr Film kriecht gleichsam in die Natur der Insel und in das Leben einer Frau, die ihre ganze Fürsorge einem einzigartigen Ökosystem widmet. Als Motto dient der eigenwilligen Filmemacherin ein Zitat des Mönchs Thomas Merton: „Wir werden niemals lieben oder retten, was wir nicht als heilig empfinden.“ Martina Wimmer

72. Internationale Filmfestspiele Berlin 10. bis 20. Februar 2022


Im Packeis gefangen
Die Reise eine Katastrophe, die Erzählung darüber fesselnd wie ein Abenteuerroman: die „Belgica“-Expedition von 1897 bis 1899

In der Mitte des Buchs schreibt Kommandant de Gerlache ins Logbuch: „Wir sind nicht länger Seefahrer, sondern eine kleine Kolonie von Gefangenen.“ Die „Belgica“, ein umgerüsteter Walfänger mit einer aus allen Winkeln der Welt zusammengeklaubten Mannschaft – darunter der berühmte Entdecker Roald Amundsen –, die von der gerade 65 Kilometer langen Küste Belgiens aufgebrochen ist, um den Südpol zu erobern und sich damit in eine Reihe mit Seefahrernationen wie England oder Spanien zu stellen, ist im ewigen Eis stecken geblieben. Man schreibt das Jahr 1898.

120 Jahre später entdeckt der Journalist Julian Sancton, dass er bei seinem täglichen Spaziergang stets am ehemaligen Wohnsitz von Frederick Cook vorbeikommt, dem genialen Retter der „Belgica“-Expedition, der später wegen eines Finanzskandals im Gefängnis landete, woraufhin die „New York Times“ spottete: „Er wird für alle Zeiten als einer der größten Hochstapler der Welt gelten. Und damit – nicht als Entdecker – wird er sich ein Denkmal setzen!“

Sancton macht sich an die Arbeit, das vernichtende Urteil zu revidieren, und schreibt ein Buch über zwei „Giganten der Entdeckungsgeschichte, einer von ihnen zu Recht verehrt – Roald Amundsen –, der andere zu Unrecht verleumdet: Frederick Cook“. Er recherchiert, trifft den Urenkel des Kommandanten, der einen der Schlitten der „Belgica“ im Flur und vier Log­bücher im Schrank hat. Er studiert die ­Aufzeichnungen Cooks und des Ersten ­Offiziers Lecointe, die des Norwegers Amundsen und der anderen Expeditionsteilnehmer. Jeder an Bord versuchte, die fantastischen Geschichten aus dem Eis in Worte zu fassen, nicht selten mit schriftstellerischem Talent. Cooks Reisebericht wurde ein regelrechter Bestseller.

Nach fünfjährigen Forschungen be­ginnt Sancton selbst zu erzählen, lässt seine Protagonisten unter Fanfaren Richtung Südpol auslaufen, um nach wenigen Meilen an der belgischen Küste zu stranden. Nichts verläuft nach Plan, weder Sturm, Meuterei und ein Riff bleiben der „Belgica“ erspart, und noch bevor das Schiff im Winter 1897/98 die ersten Eisberge erreicht, ist die Mannschaft am Ende ihrer Kräfte. Mehr als einmal entgehen sie dem Untergang nur mit sagenhaftem Glück. Dann bricht die dreimonatige Polarnacht über sie herein.

Die meisten Autoren hätten aus diesem Stoff einen Roman gemacht. Sancton widersteht der Versuchung heldenhaft mehr als 500 Seiten lang. Er hält sich streng an die Aufzeichnungen und wird nicht müde zu betonen, dass all das – so unwahrscheinlich es klingen mag – genau so geschehen ist.
Dennoch liest sich dieses „Sachbuch“ wie ein Roman, und es fröstelt einen, wenn Amundsen aufwacht und feststellt, dass er sich „keinen Zentimeter mehr bewegen“ kann. „Ich war quasi in einem massiven Eisblock eingefroren. Ich versuchte verzweifelt, mich zu befreien.“ Keine Fiktion ist so faszinierend wie eine wahre Geschichte. „Noch heute“, bemerkt Sancton, verspüre er „einen Kloß im Hals“, wenn er im Tagebuch des 19-jährigen Matrosen Carl-August Wiencke blättert, den das Eis nie wieder freigab. Hans Korfmann

Julian Sancton: „Irrenhaus am Ende der Welt. ­Die Reise der ‚Belgica‘ in die dunkle antarktische Nacht“, aus dem Englischen von Ulrike Frey, Malik, Berlin, 2021, 494 Seiten, 26 Euro

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 151. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

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mare No. 151April / Mai 2022

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