mare-Salon

Empfehlungen aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Bilder einer fremden Weltanschauung
Die Belgierin Sanne De Wilde ertastet in fotografischen Experimenten die Wahrnehmung der farbenblinden Bewohner des Atolls Pingelap

Mit Daumen und Zeigefinger hält der Junge eine Kugel dicht vor sein Gesicht. Ein Glasauge, das er seiner Augenhöhle entnommen hat. Der Schock weicht der Erleichterung – das Auge entpuppt sich als Glasmurmel, durch die hindurch er das Geschehen um sich herum betrachtet.

Diese Szenerie eröffnet das fulminante Fotobuch der Belgierin Sanne De Wilde, das selbst wie der Blick durch eine Glasmurmel hindurch funktioniert. Was sich dahinter abspielt, ist rätselhaft und faszinierend zugleich. Alle Sehgewohnheiten werden ausgehebelt, die Wahrnehmung spielt verrückt und Farben scheinen völlig verrutscht. So ist der Himmel rot, das Blattwerk rosa und das Wasser leuchtet in halluzinativem Grün. Aus der Tiefe von Schwarz-Weiß-Bildern ploppen farbige Dinge auf. Texte, die die Bildstrecken begleiten, flirren mit ihrer bunten Typografie vor den Augen. Porträtierte Personen verbergen ihr Antlitz hinter Gegenständen. An anderer Stelle blicken uns die Fotografierten unvermittelt an, und man vermag nicht zu sagen, ob die Augen offen oder geschlossen sind. Als ein Sonnenstrahl übers Buch huscht, verändert sich plötzlich die Farbe des Covers. Was eigentlich geht hier gerade vor?

Pingelap heißt die geheimnisvolle Welt, die in dem Buch präsentiert wird. Ein Inselatoll im Pazifischen Ozean, das eine Fläche von knapp fünf Quadratkilometern umfasst. 1775 suchte ein Taifun das Eiland heim, bei dem von 1000 Bewohnern nur 20 Menschen überlebten. Ausgerechnet der gerettete König soll Träger des Achromatopsie-Gens gewesen sein, das Farbenblindheit verursacht. So beschreibt es der Neurologe Oliver Sacks in dem Buch „Die Insel der Farbenblinden“. 1994 reiste er nach Pingelap und studierte, inwieweit jene neurologische Anomalie Wahrnehmung, Bewusstsein und Weltsicht der Menschen bestimmt. Mit den Generationen verbreitete sich die Erbkrankheit. Heute nimmt ein Drittel der Bewohner das Geschehen um sich herum nur schwarz-weiß wahr. Hinzu kommt eine starke Sehschwäche, Augenzittern und Lichtempfindlichkeit. Sacks schildert die Begegnung mit den Farbenblinden, deren Wahrnehmung nicht durch Farbe, sondern durch Anhaltspunkte wie Struktur, Umriss und Oberfläche geleitet ist.

Es ist nicht das lesenswerte Buch, durch das Sanne De Wilde von der Insel erfährt. In einer Radiosendung berichtet sie über ihre Arbeit und erwähnt ein Interesse für genetische Anomalien, die an bestimmten Orten auftreten. Daraufhin meldet sich ein Hörer, der selbst von Farbenblindheit betroffen ist, und weist sie auf Pingelap hin. Die Fotografin ist elektrisiert und recherchiert ausgiebig. Im November 2015 landet sie auf der Insel.

Die von dort mitgebrachten Fotos erzählen vom Eintauchen in eine Gemeinschaft, die nach eigenen Gesetzen funktioniert. Sie erzählen von scheinbar unberührten Landschaften, faszinierender Vegetation und vom Wasser der Lagunen. Aber die Erzählweise ist eine, bei der die Fotografin versucht, das Geschehen nicht nur so zu zeigen, wie es sich ihr selbst darstellt, sondern auch die Perspektive der Inselbewohner einzunehmen.
Farbige Aufnahmen, die sie in Schwarz-Weiß transformiert, finden sich neben Szenen, die sie mit Infrarotfiltern erstellt hat. Daraus ergibt sich eine seltsame Poesie. In den Landschaften werden deren Besonderheiten erst durch die pastellenen Farben betont. Immer wieder hinterfragt die Fotografin die eigene Farbwahrnehmung, wenn sie ähnliche Szenen in immer neue Farben taucht. Ihre emphatischen Porträts zeigen die Gesichter absichtsvoll hinter schützenden Gegenständen und verdeutlichen, wie die Menschen bedacht sind, das schmerzende Tageslicht zu meiden. Nur einmal nimmt De Wilde die ungeschützten Gesichter in langen Belichtungen auf. Die Betroffenen müssen blinzeln. So erscheinen ihre Augen in den Porträts offen und geschlossen zugleich.

Die Fotografin entwickelt immer wieder neue, aufregende Ansätze. Nach ihrer Rückkehr gibt sie Workshops für Farbenblinde und lässt diese ihre Schwarz-Weiß-Fotos aus Pingelap kolorieren. Ein Papagei erhält ein leuchtendes Federkleid, eine grellfarbene Pflanze wuchert aus dem Dickicht des schwarz-weißen Urwalds. De Wilde öffnet uns den Blick auf eine geheimnisvolle Welt, in der die Bewohner ihre ganz eigene visuelle Wahrnehmung entwickelt haben und nichts vermissen, was sie nicht kennen. Ein Blick wie durch eine Glasmurmel auf ein fremdes Geschehen, das sofort unser Herz ergreift.
Ein letztes Rätsel löst sich nach der Lektüre auf. Das Cover ist UV-sensitiv und ändert die Farbe bei Sonnenlichteinstrahlung. Peter Lindhorst

Sanne De Wilde: „The Island of the Colorblind“, Kehrer, Heidelberg, 2017, 160 Seiten, 85 Farb- und Schwarz-Weiß-Abbildungen, 49,90 Euro


Nasse Füße und sonstige Gefahren
Der britische Naturwissenschaftler Hugh Aldersey-Williams hat ein kurzweiliges Buch über die ewige Macht der Gezeiten geschrieben

Ein riesiges Reich nannte er sein eigen. England, Dänemark, Norwegen und das südliche Schweden standen im elften Jahrhundert unter der Herrschaft Knut des Großen. Dem Herrscher stieg die Macht aber keineswegs zu Kopf. 1028 ließ Knut der Legende nach seinen Thron bei Ebbe im Meer aufstellen, um seinem Hofstaat zu beweisen, dass selbst er sich mächtigen Kräften beugen müsse. Knut befahl der Flut: „Weiche zurück!“ Wovon sich die Wassermassen unbeeindruckt zeigten.

Knapp 1000 Jahre später wiederholte Hugh Aldersey-Williams den Versuch. Genau wie Knut bekam auch der britische Autor nasse Füße. Diese Anekdote ist eine der schönsten in Aldersey-Williams’ Buch „Flut“, dessen deutscher Titel etwas verunglückt scheint. Das englische Original trifft es mit „Tide“ zweifelsohne besser. Denn keine Flut ohne Ebbe.

Als mächtigste Kraft der Erde beschreibt der Autor die Gezeiten. In der kanadischen Bay of Fundy, dem Ort mit dem höchsten Tidenhub der Welt, bewegen sie während eines Zyklus gewaltige 160 Milliarden Kubikmeter Wasser. So viel, dass sich die Landmassen von Nova Scotia und New Brunswick nachweisbar dadurch bewegen. Anschaulich schildert Aldersey-Williams, wie gelehrte Köpfe von Aristoteles über Galileo Galilei bis hin zu Isaac Newton darüber sinnierten, welche Kräfte für die Gezeiten verantwortlich sind.

Die Erzählweise ist die große Stärke dieses Buches. Leichtfüßig verknüpft Aldersey-Williams Reiseerlebnisse mit historischen Fakten, unternimmt Ausflüge in Literatur und Kunst und verbindet Biologie und Physik, um die Bedeutung der Gezeiten für Mensch und andere Lebewesen zu erkunden. So erzählt er vom Grunion, einem kleinen Fisch, der für seinen Brutzyklus die Springtide nutzt, um seinen Laich in den Sand kalifornischer Strände abzulegen. Perfekt haben sich diese bemerkenswerten Tiere an den Gezeitenlauf angepasst. In Passagen wie diesen merkt man dem britischen Naturwissenschaftler seine Liebe zum Meer an. Ähnlich eindringlich schildert er persönliche Erlebnisse: wie er den Moskenstraumen, einen Mahlstrom bei den Lofoten, besuchte. Oder bei einem Segeltörn in tödliche Gefahr geriet.

Von Ebbe und Flut konnten Siege in der Schlacht ebenso abhängen wie kommerzieller Profit. Im 19. Jahrhundert, als die schnellen Teeklipper mit ihrer Fracht in wortwörtlicher Windeseile Richtung London eilten, entschied oftmals der Tidenstand das Rennen. Wer bei Ebbe vor der Themsemündung eintraf, musste warten, die Konkurrenten konnten aufholen.

Doch auch in der Zukunft wird der Mensch die Macht des Meeres und der Gezeiten zu spüren bekommen. Milliarden Menschen leben in Küstenbereichen und sind durch den Klimawandel selbst in wohlhabenden Ländern bedroht. Bei ansteigenden Meeresspiegeln vergrößert sich die Gefahr verheerender Flutkatastrophen. Erst 2013 wurde die Küste von East Anglia von einer verheerenden Sturmflut heimgesucht, der schwersten seit 1953. Die Lektüre von Hugh Aldersey-Williams’ Buch ist insofern mehr als ein informativer Lesegenuss. Sie ist auch ein Plädoyer, die Kräfte der Natur in einer hoch technisierten Welt wieder ernst zu nehmen. Marc von Lüpke

Hugh Aldersey-Williams: „Flut. Das wilde Leben der Gezeiten“, aus dem Englischen von Christophe Fricker, Hanser, München, 2017, 368 Seiten, 24 Euro


Im Wind geboren
Ein wortgewaltiger Roman über das Leben auf den Orkneyinseln

Die Zeit, als Dichter die natur als Krone der Schöpfung beschrieben, liegt 200 Jahre zurück. Der Expressionismus wählte die Stadt zum Sinnbild des Lebens, der Mensch ist nicht mehr Teil des Ganzen, sondern sein Mittelpunkt. Auch in der Literatur. In Schottland aber gibt es den Wainwright Prize for Best Nature and Travel Writing. 2016 hat ihn ein Roman gewonnen, der auf den regenverhangenen Orkneys im Norden Großbritanniens spielt.

Das Leben in der Landschaft aus „nichts als Klippen und Ozean zwischen hier und Kanada“ ist geprägt von Einsamkeit, Arbeit, Alkohol, Sex und einer diffusen Sehnsucht nach den Lichtern der Großstadt. Das raue Klima und die Allgegenwärtigkeit des Atlantiks bestimmen das Leben der Romanfiguren. Ganz besonders das der Icherzählerin, die mal mit melancholisch nebelhaftem, mal mit analytisch klarem Blick das Grün der Brennnesseln beschreibt, die zwischen ausgedienten Traktorteilen wuchern, oder das ewige Gurgeln des Meeres in den unterirdischen Gängen der Inseln. Liptrots Meer ist nicht romantisch blau, es ist grau und besiedelt von Tankschiffen und Pipelines, stählernen Inseln und Helikoptern, die Menschen in Krankenhäuser fliegen.

Die Geschichte von der Suche nach den Nachtlichtern könnte ihre eigene sein. „Die Orkadier haben schon oft mitangesehen, wie Idealisten aus dem Süden auf die Inseln zogen, um sie nach zwei Wintern wieder zu verlassen.“ Liptrot aber ist im Norden geboren. „Wer im Wind aufwächst, wird stark“, schreibt sie. Denn der Wind „steht nie still“ auf dieser Insel. Hans Korfmann

Amy Liptrot: „Nachtlichter“, aus dem Englischen von Bettina Münch, btb, München, 2017,
352 Seiten, 18 Euro


In Gedanken über das Meer
Carmen Stephan verdichtet die wahre Geschichte eines unvollendeten Filmes von Orson Welles zu einem vielschichtigen Sprachkunstwerk

Es ist ein dünnes, unauffälliges Buch. Den Umschlag ziert zartblaues Meer, darüber ein verschwommener Mond. Dieses Bild taucht auch im Buch auf. „Durch ein kleines Fenster schien der volle, silberne Mond …“ An dieser Stelle fragt sich die Autorin zum ersten Mal, warum sie das alles erzählt, und aus welcher Perspektive: „Wo stelle ich mich hin und sage: Schaut her!“ Diese beiden Fragen beschäftigen Autorin und Leser bis zum Schluss. Ist es die Perspektive einer der handelnden Personen oder ist es die der Schreibenden, die sich ab und zu für ein, zwei Zeilen einschaltet, sich quasi selbst am Schreibtisch über die Schulter schaut und ihre Leser direkt anspricht? „Mit ein paar Strichen zeichne ich euch das hin: Die Baumstämme, die Jangadas, die Palmen, das Meer …“ Sie scheint besorgt zu sein, dass man sich zwischen ihren luftigen Zeilen verlieren könnte, nimmt den Leser wie ein Schulkind bei der Hand: „Wir können nun die Jahre zwischen Kindheit und Citizen Kane erzählen. Wir können aber auch gleich …“ – zur Sache kommen. Und das tut sie.

„It’s all true“ ist ein Buch ohne Umschweife. Carmen Stephan erzählt auf 120 Seiten die wahre Geschichte eines Filmes, den Orson Welles nie vollendete, und dessen Fragmente erst 50 Jahre nach den Dreharbeiten in einem verstaubten Koffer wieder auftauchten. Sie erzählt außerdem die wahre Geschichte, die Welles bebildern wollte: die Reise einer Gruppe von Fischern, die 1941 beschloss, ohne Karte und Kompass mit einem Floß 2000 Kilometer über das Meer zum brasilianischen Präsidenten zu fahren, um sich über ihre armseligen Lebensumstände zu beklagen. Und sie erzählt die Geschichte der Entstehung ihres Romans, um am Ende ein paar zwingende Fragen zu beantworten, die einen bei der Lektüre stets begleiten: Warum schreibt sie, warum filmte Orson Welles, und warum lernte der Fischer das Alphabet? Auch wenn Letzterer schon auf Seite 28 eine Antwort weiß: „Sollten sie diese Fahrt wirklich machen, musste es einen geben, der sie aufschreiben konnte. Nur das Erzählte gibt es. Nur das Erzählte ist geschehen.“

Carmen Stephan reichen Skizzen, um ihren Stoff lebendig werden zu lassen. Mit wenigen Worten lässt sie Bilder, Szenen, Landschaften entstehen, die eindrücklich genug sind, um bis zum Ende des Romans und noch darüber hinaus unvergessen zu bleiben. Mit Leichtigkeit lässt sie Stürme aufziehen, selbst jener Moment, als die Männer in See stechen, kostet sie nur wenige Zeilen. Sie beschreibt, wie sie ihr Floß über die ersten drei Wellen schieben müssen, „der schwierigste Augenblick, beim Ankommen, beim Abfahren. Hier wehrte sich das Meer, sie aufzunehmen. […] Es gab eine Linie. Niemand wusste, wo genau sie verlief. Aber über diese Linie mussten sie hinweg. Dann gehörten sie nicht mehr zur Erde. Sie gehörten zum Meer“. Denn mit einer „Jangada war man nicht auf dem Meer. Man war im Meer. Dunkel, kalt, unbeantwortete Tiefe. Wasser überall“ und „sechs Baumstämme für zwei Monate. Tag für Tag. So wurden die Worte weniger …“
Bleibt nur zu hoffen, dass nicht auch Carmen Stephan immer wortkarger wird. Sondern weiter schreibt. Hans Korfmann

Carmen Stephan: „It’s all true“, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2017, 120 Seiten, 16 Euro


Die dunkle Seite der Côte d’Azur
Geboren in Heidelberg, wohnhaft in Cannes: Christine Cazon schreibt Krimis, die den Mythos der französischen Mittelmeerküste entzaubern

Die Côte d’Azur ist ein Traum, ein Mythos, ein Klischee. Sonne, Meer und Palmen, Promenaden zwischen schönen Stränden und malerischen Altstädten, dazu das süße Leben der Reichen und Schönen, der Blender und Verschwender. Doch es ist keineswegs eine Küste der Sorglosigkeit, nicht erst seit dem schrecklichen Anschlag von Nizza am 14. Juli 2016. Wo viel Geld ist, blühen Korruption und Verbrechen, auch in Cannes, wo in jüngerer Zeit ein Bürgermeister wegen Korruption verurteilt wurde. Zudem ist diese Küste inzwischen eine Hochburg des Front National geworden. Und als wäre das nicht genug, wütet neuerdings ein rötlicher Rüsselkäfer, dessen Larven das Mark der Palmen zerfressen, die deshalb zu tristen Stümpfen verkümmern.

Dieses Nebeneinander von Traumkulisse und Grautönen schafft gute Voraussetzungen für Krimiautoren. Die aus Heidelberg stammende Christiane Dreher, alias Christine Cazon, die seit mehreren Jahren mit ihrem Mann (einem Cannois) in Cannes lebt, siedelt hier ihre äußerst erfolgreiche Krimireihe an, die im Jahr 2014 mit „Mörderische Côte d’Azur“ begann und im März ihre fünfte Fortsetzung erlebt: „Wölfe an der Côte d’Azur“. Cazon wohnt in einem alten Viertel, in der Nähe von La Croix-des-Gardes, einem Naturschutzgebiet am Rand der Stadt.

„Ich will Cannes und die Côte d’Azur zeigen, so wie sie sind“, erzählt die Autorin. „Hinter der idyllischen Fassade gibt es den Alltag – und viel Korruption und Kriminalität. Und die Leser finden ihr Vergnügen daran, die dunkle Seite der lieblichen Côte d’Azur zu entdecken, sich ein wenig zu gruseln und zu empören über so viel Verderbtheit in einer so schönen Region.“

Leitfigur ihrer Krimis ist Kommissar Léon Duval. Sein Vater und Großvater haben in Cannes gelebt, er aber war lange in Paris tätig und hat sich erst nach der Trennung von seiner Frau Hélène (und den zwei Kindern) nach Cannes versetzen lassen. Nun entdeckt er seine alte, stark veränderte Heimat neu. Kaum angekommen, muss er einen ersten Mord aufklären: Im Palast der Filmfestspiele ist ein prominenter Ökoaktivist und Dokumentarfilmer während einer Vorstellung erschossen worden. Und die Leser erfahren en passant einiges über die Heuchelei von Umweltschutzorganisationen, die Perversionen der Prominenten, über die Kulissen des Festivals. Die Vorgeschichte von Duvals Familie birgt einige Geheimnisse, von denen ausgerechnet der Casinobesitzer etwas zu wissen scheint, der in der Stadt heimlich die Fäden zieht. Duval lernt eine Journalistin kennen, die ihm bei seinen Recherchen hilft, aber auch eigene Interessen verfolgt, und schließlich seine Geliebte wird. Von Roman zu Roman entwickelt sich das Privatleben des Kommissars.

„Ich finde es schön, wenn beides Spannung bietet: die Ermittlungen und das Privatleben. Der Kommissar darf ein Schlitzohr sein, aber nur, um den ganz Bösen das Handwerk zu legen. Und er hat ein paar Schwächen, die man vielleicht sogar liebenswert finden kann. Ich verbringe ja viel Zeit mit meinem Commissaire und finde es persönlich angenehmer, mein schreibendes Leben mit einem mir sympathischen Mann zu teilen.“

In jedem der Bände wird ein großes gesellschaftliches Thema entfaltet, Umweltschutz oder Flüchtlingskrise, das Leben afrikanischer Straßenhändler, geschrieben aus intimer Kenntnis des französischen Alltags, fernab aller Klischees. Für die Krimis von Christine Cazon gilt das Motto des berühmten französischen Krimiautors Jean-Patrick Manchette: „Ein guter ‚roman noir‘ ist ein sozialkritischer Roman, der die Geschichte eines Verbrechens als vordergründige Fabel nimmt.“

Cannes und sein Hinterland sind bei Cazon mehr als romantische Schauplätze, es geht ihr nicht darum, Geheimnisse von Ölmühlen zu lösen, Leichen im Lavendel zu platzieren oder an vornehmen Stränden. Sie schreibt nicht bloß Regionalkrimis, sondern immer auch Romane aus dem Frankreich der Gegenwart. So gelingt es ihr, der Vielfalt der Côte d’Azur gerecht zu werden und zugleich ihre immer wieder erstaunlichen Schönheiten zur Geltung zu bringen. Manfred Flügge

Christine Cazon: „Wölfe an der Côte d’Azur“, KiWi, Köln, 2018, 304 Seiten, 9,99 Euro


Leidenschaftlicher Strandgutsammler
Fantasiefische und Zitate von Cousteau: Der Künstler Willy Puchner hat seine vielschichtige Liebe zum Meer in ein Kinderbuch gesteckt

„Warum soll ich es nicht sagen? Ich liebe das Meer! Es vermittelt einem das Gefühl, als würde man ein eigenes Land betreten, ein Land, in dem Berge und Wiesen unter Wasser verborgen liegen. All die Beobachtungen, Fakten und Gedanken ließen mich viel Material über das Meer sammeln“, sagt der Wiener Künstler und Fotograf Willy Puchner und präsentiert auf mehr als 20 Doppelseiten Strandgut, Zitate von Heinrich Heine und Jacques-Yves Cousteau, Fantasiefische und Gedanken zu Möwen, schwimmenden Elefanten und gefährdeten Korallenriffen.

Die vielschichtigen Collagen bieten je nach Alter der Betrachter ganz unterschiedliche Zugangsweisen. Puchner zeichnet mit Wasser-, Aquarell- oder Acrylfarben zunächst auf teilweise altem, vergilbtem Papier, um die vielen Bilder dann am Computer weiter zu bearbeiten. Dabei überzeugt jede einzelne Seite und Idee für sich. So schreibt Puchner etwa in eine Wolke das Wort „Meer“ in vielen Sprachen hinein. Handschriftlich – das versteht sich bei ihm fast von selbst. „Da ist jeder Buchstabe von Bedeutung. Ich verwende die feinsten Stifte und möchte, dass keinesfalls ein Schriftbild entsteht, das maschinell aussieht.“

Diese originelle Mischung aus Zitaten, Bildkomposition, Fantasie, Handschrift und Farbgespür ist kennzeichnend für seine Werke. „Da ich ein leidenschaftlicher Briefeschreiber bin, waren die Briefmarken und die Flaschenpost wichtig für mich“, ergänzt Puchner. Eine ganz besonders gelungene Doppelseite: 15 Fantasiebriefmarken und ein Fernwehpoststempel. Fernweh nach dem Meer bekommt man garantiert beim Betrachten dieses Buchschatzes. Antje Ehmann

Willy Puchner: „Willy Puchners Fabelhaftes Meer“, G & G, Wien, 2017, 48 Seiten, 19,95 Euro


Unterwasserliebe
Neu übersetzte Erzählungen von Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Wer die Mythologie Siziliens, den Geschmack von Seeigeln und ein erotisches Fest mit der Tochter von Kalliope in einer knappen Erzählung zu einem Paradies vereint, braucht eigentlich nicht mehr zu schreiben, um unsterblich zu werden. Giuseppe Tomasi di Lampedusa, 1896 in Palermo geboren, wurde posthum mit seinem einzigen Roman „Il Gattopardo“ weltberühmt. Auch seine Erzählungen erschienen erst nach seinem Tod. Jetzt sind sie von Moshe Kahn neu und in nachempfundener Heiterkeit Siziliens ins Deutsche übertragen worden.

Es geht um alte Geschlechter, um verfallende Schlösser, um Kindheitserinnerungen an Zeiten, denen nur die nachweinen, die sie überlebt haben. In der Titelgeschichte begegnen sich ein junger Journalist und ein greiser Altphilologe in Turin. Beide stammen aus Sizilien. Als der Junge dem Emeritus seine Lieblingsspeise serviert, grantelt der: „Schade, dass sie nicht aus dem Meer da unten sind, diese Seeigel, dass sie nicht in unsere Algen eingewickelt sind. Ihre Stacheln haben sicher niemals göttliches Blut vergossen.“ Der Altphilologe offenbart dem Jungen die hinreißende Liebesgeschichte aus dem Sommer 1887, als er, damals selbst blutjung, in seinem Ruderboot von einer Sirene besucht wurde. Lighea, die Tochter der Kalliope, lächelte ihn an: „Von den Haaren rann das Meerwasser über die weit geöffneten grünen Augen und die Gesichtszüge kindlicher Reinheit.“ Drei unvergessliche Wochen werden zeitlebens die erfüllendste Erinnerung des Sizilianers bleiben. Harald Loch

Giuseppe Tomasi di Lampedusa: „Die Sirene“, aus dem Italienischen von Moshe Khan, Piper, München, 2017, 288 Seiten, 24 Euro


An dieser Stelle berichtet mare regelmäßig über neue Bücher aus seinem Verlagsprogramm

„Ein Nobelpreis fürs Fluchen“
Ian McGuire hat einen Roman über den Walfang des 19. Jahrhunderts geschrieben. Und verhandelt darin die tiefen Abgründe des Daseins

Sie haben sich als Literaturwissenschaftler mit Herman Melville beschäftigt, nun erscheint Ihr eigener Walfängerroman. Er liest sich ungemein authentisch. Woher stammt Ihr Wissen?
Anders als Melville musste ich auf historische Aufzeichnungen zurückgreifen. Aber vor allem die Schiffsärzte an Bord der Walfänger waren gebildet und hatten genug Zeit, ihre Eindrücke festzuhalten.

Sie wuchsen in Hull auf, einer alten nordenglischen Hafenstadt, in der auch Teile des Romans spielen.
Anfang der 1970er florierte Hull noch als Fischereihafen, Ende des Jahrzehnts war die Fischerei am Ende. Erst später verstand ich, wie sich darin der Tod der Walfangindustrie widerspiegelte: Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war Hull Englands wichtigster Walfanghafen, 1870 kam der Handel zum Erliegen, Petroleum löste Walöl als Quelle für Licht und Treibstoff ab. „Nordwasser“ spielt während der Dämmerung des britischen Walfangs. Ich konnte Beobachtungen einfließen lassen, die ich als Jugendlicher in Hull gemacht hatte.

Auch der Umgangston der Seeleute kommt in Ihrem Buch realistisch und ziemlich rau daher.
An Bord lebten damals einfache Menschen über Monate unter unwirtlichen, gefährlichen Bedingungen zusammen. Da ergab es für mich Sinn, dass die Leute dauernd fluchen. In dieser Sprache steckt eine Art unbekümmerter Kraft, die das Schreiben zum Vergnügen macht. Ein Kritiker schrieb, wenn es einen Nobelpreis fürs Fluchen gäbe, „Nordwasser“ würde ihn gewinnen. Das hat mir gefallen.

Die Geschichte hebt an als historischer Abenteuerroman. Nach dem Kentern der „Volunteer“ gewinnt das Buch plötzlich etwas Metaphysisches: Kurz vorm Erfrieren kriecht der Protagonist, der Schiffsarzt Sumner, in die dampfende Leiche eines Eisbären.
Das Schreiben eines Romans ist immer ein Wechselspiel zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten; die Szenen mit dem Bären kamen eher aus dem Unbewussten. Sie haben mit Sterben und Wiedergeburt zu tun, mit dem Verwischen des Unterschieds zwischen der menschlichen und der tierischen Welt.

Eskimos retten Sumner und bringen ihn zu einem Missionar, dessen religiöse Ansichten der Arzt ablehnt. Stattdessen nähert er sich den Einheimischen an – eine Zivilisationskritik des Autors?
Ja und nein. Sumner stimmt nicht mit den kruden Überzeugungen des Missionars überein, aber er fühlt sich auch nicht den Eskimos verbunden. Vielmehr schätzt er es, dass er mit ihnen nicht kommunizieren kann. Er will sich nicht spüren; lebendig zu sein beinhaltet die Art von Schmerz, Leiden und Komplikationen, vor denen er weggelaufen ist.

Inwieweit bringt ihn seine Odyssee zurück zu sich selbst?
Er flieht vor sich und seiner Vergangenheit, deshalb nimmt er Opium, deshalb geht er an Bord eines Schiffes. Aber dann gerät er in Situationen, in denen er moralische Entscheidungen treffen muss. Er entdeckt wieder, wer er ist und woran er glaubt, aber ich bin mir nicht sicher, ob der Prozess je für ihn endet. Die Welt, in der er lebt, ist brutal und materialistisch. Sie belohnt kein moralisches Handeln.

Dem desillusionierten Schiffsarzt steht der Harpunier Drax gegenüber, der Taten über Reflexionen stellt und ohne Reue mordet. Es entwickelt sich eine Art Krimi. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Der Roman begann mit der Idee eines Mörders an Bord eines Walfangschiffs. Aber ich wusste sofort, dass ich noch einen anderen Charakter brauche, um einen dramatischen Konflikt zu erzeugen. Da kommt Sumner ins Spiel. Er ist kein Detektiv wie in einem klassischen Krimi, aber manchmal erfüllt er diese Funktion.

Am Ende besucht er den Berliner Zoo. Warum Deutschland, warum Berlin?
Ich fürchte, die Antwort ist rein pragmatisch: Sumner will fliehen und landet in Middlesbrough. Es gab damals viele Schiffe, die Kohle von Hamburg nach dort transportierten. Von Hamburg, dachte ich, würde er wahrscheinlich noch weiter ziehen, Berlin als Großstadt schien ein perfekter Ort, um zu verschwinden. Dass es in Berlin einen Zoo gab, war ein Glücksfall. Ich wusste nicht, dass der Roman mit dieser Szene enden würde, bis ich sie geschrieben hatte.

Das Gespräch führte Roland Brockmann

Ian McGuire: „Nordwasser“,aus dem Englischen von Joachim Körber, 304 Seiten, 22 Euro


Vom wilden Seeungeheuer geküsst
Der Regisseur Guillermo del Toro erzählt von einer fabelhaften Liebe, die mit großen Gefühlen unter der Wasserlinie spielt

Wasser, sagt Guillermo del Toro, konnte er sich gar nicht leisten. Der mexikanische Filmemacher hätte die schönste Szene seiner Romanze „The Shape of Water“ gern dort gedreht, wo sie hingehört: unter Wasser. Doch für Aufnahmen in gigantischen Tauchbecken braucht man spezielle Gehäuse fürs Filmgerät, besondere Beleuchtung, hochauflösende Kameras. Viel zu teuer, seufzt del Toro. „Mein Budget lag bei unter 20 Millionen Dollar. Wir mussten tricksen.“ Und so ist ausgerechnet der Film, der weltweit die Leinwände erfolgreich mit Unterwasserpanoramen und Überschwemmungsfantasien flutet, in der altmodischen „Dry for wet“-Technik entstanden. Der gelernte Spezialeffektekünstler del Toro platzierte sein ungewöhnliches Liebespaar – eine junge Frau und einen leibhaftigen Wassermann – in eine staubtrockene Kulisse, blies die Schauspieler mit Ventilatoren an, sodass sich ihre Haare und Kleider bewegten, hängte Requisiten an Klaviersaiten auf, um sie „schweben“ zu lassen, filmte mit diffusem Licht in Zeitlupe – und voilà: Für den ahnungslosen Zuschauer küssen sich Mensch und Wunderwesen in ihrer ganz eigenen Sea World. Die Sauerstoffbläschen, die um das Pärchen blubbern, wurden per Computer in die Szene gefügt, die Wonne unter Wasser ist perfekt. Solange man sich nicht daran stört, dass die Heldin – gespielt von der Britin Sally Hawkins – ihre Lippen auf ein Fischmaul presst.

Das Objekt ihrer Begierde ist nämlich ein Seeungeheuer: ein hornschuppiges Wesen aus dem Amazonas, das von den Einheimischen dort als Gott verehrt, von westlichen Forschern aber als Kuriosum in ein Nasa-Labor nach Baltimore verschleppt wird.

Es ist das Jahr 1962, der Kalte Krieg klirrt vor sich hin, Amerika fürchtet sich vor Kommunisten, Schwarzen und allem, was anders ist. Elisa ist anders: Sie ist stumm und einsam. Ihre beste Freundin ist schwarz, ihr Nachbar schwul. Sie arbeitet als Putzfrau in jenem Geheimlabor.
Als eines Tages in einem Tank das Monster angeliefert wird, fühlt sie sich sofort zu ihm hingezogen. Es ist anders, wie sie. Es kann nicht sprechen, ist allein. Elisa freundet sich mit dem Exoten an, füttert ihn mit Eiern, spielt ihm Jazzplatten vor, bringt ihm Zeichensprache bei. Auf dieses Geschöpf, erklärt sie ihrem Nachbarn, habe sie ihr Leben lang gewartet. Sie will ihm helfen, denn die Nasa plant tödliche Experimente. Der Nachbar (Richard Jenkins) stöhnt nur: „Wenn ich dich in ein chinesisches Lokal ausführe, willst du dann auch alle Krabben retten?“ Elisa gestikuliert ungeduldig: „Wie er mich ansieht! Ich kann ihn nicht sterben lassen.“
Alte Schwarz-Weiß-Horrorfilme haben del Toro zu seiner kuriosen Lovestory inspiriert. Er hatte schon immer eine Schwäche für Außenseiter und Verfolgte. Unter anderem habe das an seiner ultrakatholischen Großmutter gelegen; die habe ihn mit christlichem Symbolismus bombardiert, was seine Sympathie für die Verstoßenen nur nährte. Kann man sich, so fragte er sich schon als kleiner Junge, in ein Monster verlieben?

Die „New York Times“ beschreibt den zehnten Film des 53-Jährigen, den er, nach Genrewerken wie „Hellboy“ und „Crimson Peak“, seinen persönlichsten nennt, als „Abenteuer-Drama-Fantasy-Horror-Romanzen-Thriller“. Und findet ihn wunderbar. Auch weil del Toro ein erfrischend unzynischer Filmemacher ist, der seine politischen und moralischen Botschaften in Fabeln verpackt, wie nur er sie erzählen kann.

„Wasser und Liebe“, sagt er, „haben viel gemeinsam. Sie sind beide beweglich und nicht wirklich zu fassen und doch die stärksten Kräfte im Universum.“ Christine Kruttschnitt

Guillermo del Toro: „The Shape of Water Das Flüstern des Wassers“, Spielfilm mit Sally Hawkins, Richard Jenkins, Michael Shannon, Octavia Spencer, 123 Minuten, Twentieth CenturyFox, USA, ab 15. Februar im Kino

Die unendliche Geschichte
Übers Meer geflohen, im Exil unerwünscht: Gottlieb Mittelbergers Bericht aus dem 18. Jahrhundert ist Mahnmal für die heutige Zeit

Als wär’s eine Geschichte von heute: Ein junger Mann macht sich auf den Weg, um auf einem anderen Kontinent der heimischen Armut und Verzweiflung zu entfliehen, hält sich dabei nicht mit allzu viel moralischen Skrupeln auf und wird dann seinerseits, im Hafen, von Schleppern und Kapitänen über den Tisch gezogen, ehe eine hochgefährliche Seereise beginnt. Das Wetter ist stürmisch, das Schiff ein Seelenverkäufer, das Essen miserabel und die Besatzung ohne Gnade: Wer krank wird, geht gewaltsam über Bord. Wem das Geld für die Passage gestohlen wurde, muss sich an den Kapitän verkaufen, der dann im Ankunftshafen die Unglücklichen an heimische Unternehmer oder Farmer weiterverkauft – für lange Jahre, in denen die Reisesumme abgearbeitet werden muss.

Zugetragen hat sich diese Geschichte jedoch im Jahr 1750, und erzählt hat sie der 1721 im schwäbischen Eberdingen geborene Gottlieb Mittelberger. Lange war das 1756 erschienene Büchlein verschollen, nun hat es der vor einiger Zeit gegründete Verlag Das kulturelle Gedächtnis wieder aufgelegt, versehen mit einem historisch einordnenden Nachwort von Wolfgang Hörner. Wie der Name sagt, möchte der Verlag anhand der Neupublikation vergessener Texte gegenwärtige Debatten historisch grundieren – was nun bereits mit Mittelbergers „Reise in ein neues Leben“ glänzend gelungen ist. Denn der Verfasser findet in der damals noch britischen Kolonie Pennsylvania zwar bald eine Anstellung, leidet aber wie viele andere der damals tausendfach zugereisten Deutschen unter dem Verdacht der Hiesigen (will heißen: der älteren Zuwanderer). Diese argwöhnen, mit den Deutschen folgten Germanisierung und lose Sitten. Eine Pointe der Geschichte will, dass sich die heutigen Bewohner von Pennsylvania, Abkommen eben jener Bootsflüchtlinge, geradezu als amerikanischer Pionieradel fühlen.

Auch das moralisch Ambivalente von Mittelbergers Leben erscheint heutig und könnte bei genauer Lektüre gleichermaßen vor Idealisierung wie Dämonisierung schützen: Im Schwäbischen war er wegen sexueller Belästigung aufgefallen, hatte dann fluchtartig Frau und Kind verlassen, um dann später in Amerika ebenfalls verhaltensauffällig zu werden, ehe er nach Deutschland und zu seiner angestammten Familie zurückkehrte und das vorliegende Buch schrieb.

Seine vorherige Odyssee, die ihn auf diversen Rheinschiffen von Heilbronn bis Holland an 36 Zollstationen vorbeigebracht hatte, ehe er im Hafen von Rotterdam – bereits dort betrogen und gezaust – an Bord des unwirtlichen Schiffes gehen konnte, hatte ihn übrigens keineswegs zu einem „besseren Menschen“ gemacht. Wie auch? Das Mitleid für die über Bord Gekippten hält sich in Grenzen, Pennsylvania erscheint ihm bereits kurz nach der Ankunft als „Sammelplatz aller entlaufener Taugenichtse“, und die Indianer, derer er in Philadelphia ansichtig wird, sind ihm unheimliche „wilde Leute“ – ganz so, als hätte er die schlimmste „Wildheit“ nicht unter seinesgleichen erlebt. Kurz: eine erhellende Lektüre, die den Leser aufmerksam macht und gleichzeitig gelassen. Wer der gegenwärtigen Mediendebatten müde ist, lese dieses Buch. Marko Martin

Gottlieb Mittelberger: „Reise in ein neues Leben“, Das kulturelle Gedächtnis, Berlin, 2017, 112 Seiten, 20 Euro


Im Netz

Strandgut mit System
Nordseeneugierige ahoi! Wer am Nordseestrand etwas Spannendes oder Rätselhaftes findet, kann auf dieser Website seine Funde melden, sei es eine Kokosnuss, ein Stück Seil oder eine Wellhornschnecke. Ein Blick auf die Liste der bisherigen Funde zeigt: Die Vielfalt ist groß. Es gibt Bestimmungshilfen und Wissenswertes über Strandfunde, die bereits gemeldet wurden. Auf einer interaktiven Karte lassen sich Strand und Wattenmeer so auch zu Hause genau unter die Lupe nehmen. Wiebke Böse

www.beachexplorer.de


Im Deckchair

Ein persönlicher Tipp von Lily Breimann, Praktikantin des mareverlags

Als ich letzten Sommer auf unserer Interrailreise den ersten Teil der Trilogie um die 16-jährige Belly auspackte, bekam meine Freundin leuchtende Augen: „Was würde ich dafür tun, die Bücher noch vor mir zu haben!“ Ich habe sie schnell verstanden, konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen, auch wenn es am Strand schon viel zu warm geworden war oder meine Freunde mich zum Baden lockten. Das Beste daran: Hat man nach 256 Seiten über das Meer, den Sommer, Familienferien, Freundschaft und Liebe, das Erwachsenwerden und die Höhen und Tiefen des Lebens noch nicht genug, kann man nach dem zweiten und dritten Teil greifen. Dabei sind die Geschichten um Belly gar nicht besonders spannend, dramatisch, lustig oder romantisch. Trotzdem fesselten sie mich auf angenehme und leichte Weise. Das Lesen war wie Urlaub vom Urlaub, man war in einer anderen, erholsamen Welt.

Jenny Han: „Der Sommer, als ich schön wurde“, Hanser, München, 2011

mare No. 126

No. 126Februar / März 2018

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