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Erbarmungsloses Fernweh
Paul Signac war Maler der Marine und glühender Segler. Das Wallraf-Richartz-Museum widmet ihm eine sehnsuchtsvolle Ausstellung

Zeit seines Lebens zog es Paul Signac hinaus auf See. Nachdem er Paris zum ersten Mal verlassen hatte, befuhr er die Meere Europas bis hin zum Orient, als leidenschaftlicher Segler bald auch mit eigenen Booten wie der „Olympia“, benannt nach dem Gemälde Édouard Manets. Seine maritimen Fähigkeiten halfen Signac, am oder auf dem Wasser festzuhalten, was sich an Licht, Landschaft und Horizont vor ihm auftat, und so seine künstlerische Identität zu finden.
In einer Sonderschau präsentiert das Kölner Wallraf-Richartz-Museum am Meer entstandene Werke Paul Signacs, zusammen mit impressionistischen Stücken aus dem Hausbestand, die landschaftliche und stilistische Kontexte schaffen und dabei erbarmungslos das Fernweh wecken. Die Rundreise beginnt in Paris, wo Signacs frühes „Die Seine bei Courbevoie“ noch dem klassischen Impressionismus entspricht, wie er auch auf den Strandansichten von Eugène Bodin oder Claude Monet aus der Normandie zu sehen ist. Das Spätwerk „Hafen von Concarneau“ verdeutlicht hingegen Signacs Hinwendung zum neoimpressionistischen Stil des Pointillismus – auf seinen Reisen sollte er die originäre Pleinairmalerei aufgeben und unter freiem Himmel nur noch grobe Aquarelle fertigen, die als Vorlagen für durchkomponierte Gemälde dienten.
Während einem die realistischen Momentaufnahmen aus Gustave Courbets „Meeresstrand“ oder Monets „Fischerboote am Strand von Étretat“ in Form von Wolkenspiel und Gischt geradezu ins Gesicht springen, zeigt Signac seine Liebe zum Meer durch Struktur, etwa in der Darstellung der Festung im Hafen von La Rochelle; fast schon folgerichtig wurde er 1915 zum Maler der französischen Marine im Rang eines Offiziers ernannt.An der Côte d’Azur und der italienischen Riviera, insbesondere in Signacs Ansichten von Antibes und Capo di Noli, explodieren die Farben: Hier scheint selbst seine kühle, abwägende Tupfsystematik nicht vor den sekündlich wechselnden Lichtnuancen und der Atmosphäre der Region gefeit. Unter den „Nicht-Signacs“ ragen derweil nicht etwa die Provence-Werke van Goghs oder Cézannes heraus, sondern Berthe Morisots „Hafen von Nizza“, der durch seine abgeschnittene Bootsperspektive den Fokus auf das Wasser lenkt und dennoch mit nur einem einzigen rosafarbenen Palazzo klarmacht, dass man sich an der Riviera befindet.
Den Höhepunkt der Ausstellung bildet Paul Signacs „Konstantinopel: Yeni Djami“, welches das Museum jüngst als Dauerleihgabe des Landes Nordrhein-Westfalen erhielt und das erstmals seit 1963 wieder öffentlich gezeigt wird. Unter den vielen prachtvollen Stücken wirkt das Gemälde von 1909 noch einmal fangender: Den Blick über den Bosporus kreuzen die früher als Fähren dienenden Kaiks, während sich im Hintergrund eine diesige Silhouette von Moscheen abzeichnet. Und obwohl das Pulsieren der Metropole spürbar ist, legt die dezente Farbwahl dem Bild einen mesmerisierenden Schleier auf.
Im heutigen Türkisch existiert ein Ausdruck für die Melancholie, die mit Istanbul verbunden ist, hüzün, und die so mancher, der schon einmal am Bosporus vom einen Kontinent auf den anderen geblickt hat, nachzuvollziehen vermag. Signac scheint dieses Gefühl schon damals auf die Leinwand gebannt zu haben. Stephan Sura

„Bon Voyage, Signac! Eine impressionistische Reise durch die eigene Sammlung“, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, 16.4.–22.8., Katalog mit 263 Abbildungen,
312 Seiten, 19,95 Euro, www.wallraf.museum


Die Nordsee als Lernhilfe
Es gab sie wirklich: jene Schule auf Juist, die in den 1920er-Jahren freie pädagogische Wege ging. Ein Roman erzählt ihre Geschichte


Detail- und kenntnisreich lässt die Autorin Sandra Lüpkes die „Schule am Meer“, die es wirklich unter diesem Namen gab, in ihrem gleichnamigen Roman wieder aufleben. Dabei liefert sie nicht nur ein Stück Zeit- und Epochengeschichte, sie arbeitet jene Strukturen, die in Gemeinschaften über kurz oder lang zu der heute viel zitierten und allenthalben diskutierten Polarisierung führen, bemerkenswert exakt heraus. Im Mikrokosmos der abgeschiedenen Insel Juist, die heute überschaubare 1524 Einwohner zählt, verwebt sie reale Begebenheiten und Figuren mit fiktional angereichertem Material.
Dreh- und Angelpunkt ist die 1925 gegründete „Schule am Meer“, deren Lehrer, Schüler und Mitarbeiter, ihr Verhältnis zueinander und zu den eigenwilligen Insulanern. Der steifen Nordseebrise setzen die Lehrer ein Konzept entgegen, das man damals als „Reformpädagogik“ bezeichnete.
Lehrer und Schüler waren nicht nur per Du; neben dem Studium in den traditionellen Fächern ging es auch und vor allem darum, die künstlerischen, musischen, praktischen wie sportlichen Fähigkeiten und Potenziale der Schüler zu wecken und zu verfeinern. Die unbedingte Entwicklung eines eigenen ästhetischen Urteilsvermögens ging Hand in Hand mit der Festigung der Persönlichkeit. Nicht von ungefähr assoziiert man Waldorf: Die Anthroposophie Rudolf Steiners war – neben vielen anderen Elementen – Teil der erzieherischen Ausrichtung der Schule.Der Clash mit der Bevölkerung, die mit bärbeißigem Argwohn den Neuankömmlingen begegnet, ist programmiert, ja schlechterdings unvermeidbar. Mit hohem erzählerischen Tempo, fein konturierten Charakteren und geschmeidigen Dialogen, die manchmal ins Plattdeutsche geraten, lässt Lüpkes die störrischen und introvertierten Insulaner auf die lebenshungrigen, manchmal ostentativ arrogant agierenden Jugendlichen treffen. Während die schroffe Natur Juists mit der sie umgebenden launischen Nordsee eine magisch anziehende Offenbarung und Verheißung für den einen ist, scheitern andere an den naturgemäßen Begrenztheiten des Insellebens.
Illuster ist das Figurenarsenal, das im Roman teilweise den wirklichen Protagonisten entspricht, die damals auf Juist an der Schule waren. So agiert Eduard Zuckmayer, Bruder des bekannten Dramatikers Carl Zuckmayer, als melancholischer wie ambitionierter Musiklehrer; und der Sohn von Alfred Döblin, Peter Döblin, schafft es zusammen mit vier anderen Kommilitonen in einer halsbrecherischen Aktion mit einem Flugzeug, das wegen winterlicher Verhältnisse von der Außenwelt völlig abgeschnittene Juist für Abiturprüfungen in Wilhelmshaven zu verlassen. Die immerfort schwelende innere Unruhe und Hysterie der Adoleszenz, das Frühlingserwachen, ein bisschen Wedekind und Törleß, die Widersprüchlichkeiten und Unauflösbarkeiten des Erwachsenwerdens setzen den Ton.
Der Anfang vom Ende der Schule ist besiegelt und unwiderruflich zu Ende, wenn das Gift des Faschismus und Nationalsozialismus langsam in das Gesellschaftsgefüge einsickert und jegliche Ideale zunichtemacht. Sven Weidner

Sandra Lüpkes: „Die Schule am Meer“, Kindler, Hamburg, 2020, 576 Seiten, 22 Euro


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 145. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

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mare No. 145April / Mai 2021

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