mare-Salon

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Kanutouren mit Skizzenblock
Eine Ausstellung in der Frankfurter Schirn wirft einen kritischen Blick auf die romantischen Visionen kanadischer Landschaftsmalerei

Anlässlich des Ehrengastauftritts Kanadas 2020 auf der Frankfurter Buchmesse – und wegen der Corona-Pandemie erst in 2021 – erscheint zur Ausstellung in der Kunsthalle Schirn ein faszinierendes Buch über die Schönheit, die Erhabenheit und das Merkwürdige in der Landschaftsmalerei einer Nation. Im Zentrum der Ausstellung stehen die farblich und energetisch aufgeladenen Bilder der 1920 in Toronto gegründeten Künstlergruppe Group of Seven: Sieben Maler wollten die Weite und Unberührtheit ihres Landes Kanada, das auf eine lange Kolonialgeschichte zurückblickt, in allen Facetten einfangen und eine eigene Schule der Landschaftsmalerei begründen. Für ihren Traum einer „neuen Welt“ jenseits der Realität des modernen Stadtlebens durchstreiften sie im Landesinneren und an der Küste mit dem Skizzenblock die Natur, nicht selten mit dem Kanu, wobei gecampt, gefischt und gewandert wurde – so entstand eine romantische Vision eines Rückzugsorts in der „unberührten“ Natur auf Papier und Leinwand.
Dieser Mythos von der antielitären „kanadischen Kunst für Kanadier“ wird in „Magnetic North“ kritisch hinterfragt. Als Vorreiter dieser Schule galten Tom Thomson, der die meiste Zeit des Jahres in und mit der Natur lebte, sowie die oft in Verbindung mit der Gruppe genannte Emily Carr, die Holzarbeiten der kanadischen Inuit in ihre Bilder integrierte. Dafür wurde ihr spätestens seit den 1990er-Jahren Stereotypisierung vorgeworfen.
Deswegen bezieht die Ausstellung filmisch indigene Perspektiven mit ein. Kuratorin und Herausgeberin Martina Weinhart weist darauf hin, dass es im Diskurs der Indigenen das Wort „Landschaft“ nicht als Besitzanspruch gibt; ihre Wortschöpfungen in dem Kontext preisen eher die Menschlichkeit.
Die versammelten Bilder, Skizzen und Fotos sind nicht nur Ausschnitte eines individuellen Naturerlebens, ihre Motive gehören zum kollektiven Gedächtnis des Landes, wirken mitten hinein ins Herz der kanadischen Identität. Beinahe plakativ könnte man ihre unmittelbare Wirkung nennen. Der Stil – Natur als Formen, ungestüme Farben und Bewegung abzubilden – kennt zwar europäische Vorbilder, aber der Begriff „wildercentric“ kommt dem Mythos der dargestellten kanadischen Wildnis auf der Leinwand sehr nahe. Ein einsam auf dem Fels wachsender Baum trotzt wie ein Schiff in den Wellen Sturm und Kälte und hält allen Widrigkeiten stand. Bilderwelten, die den Betrachter alles andere als kalt lassen. Franziska Puhan-Schulz
Martina Weinhart (Hrsg.): „Magnetic North. Mythos Kanada in der Malerei 1910–1940“, Prestel, München, 2021, 240 Seiten, 49 Euro
„Magnetic North“, Ausstellung bis 16. Mai, Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main,
www.schirn.de


Die Formensprache des Meeres
Tauchgänge inspirieren die Bildhauerin Doris Leuschner zu Skulpturen, die Organismen gleichen, aber ein vieldeutiges Eigenleben haben

Es pfeift, klickt und brummt aus dem stillgelegten Getreidesilo unweit des Ammersees. Was hier auf einem ehemaligen Bauernhof erklingt, ist der Gesang eines männlichen Buckelwals: ein urgewaltiges Lied, das im Ozean von Jahr zu Jahr changiert, mehr als zehn Minuten kann ein Song dauern. Die Bildhauerin Doris Leuschner gibt ihrem Buckelwal etwa vier Minuten: Durch ein Fenster blickt der Betrachter auf den Boden des Betonsilos – karibikblaues Wasser, darin versenkt große dunkle Steine, zum Walgesang aus dem Lautsprecher dröhnt ein Signalhorn, Möwen kreischen, der Sound ist unterlegt mit dem Blubbern eines Tauchers. Ein Hauch von Schwerelosigkeit stellt sich ein bei jenen, die schon einmal mit einer Pressluftflasche am Rücken in die Tiefe geglitten sind.
„Das Meer bietet dem Leben unendlich viele Nischen. Es fasziniert mich, wie sich kleinste Organismen an extreme Bedingungen anpassen“, erzählt die Bildhauerin, die auch Rettungstaucherin ist. Seit fast 20 Jahren erkundet sie die Unterwasserwelt, ihre Eindrücke werden zu Skulpturen aus Holz, Porzellan und Kupferdraht. Häufig inszeniert sie mikroskopisch kleine Meereswesen als anmutige Schönheiten auf großer Bühne. „Ich will über die Ästhetik ein Problembewusstsein entwickeln.“
So verwandeln Doris Leuschners Hände einen Einzeller in einen fast drei Meter hohen Goliath. Ein sonderbares, faszinierendes Wesen aus erdfarbenem Leim und Hunderten Bambusringen, das mit seiner glatt polierten Oberfläche aussieht wie ein Riesentintenfisch, der nachts, von innen beleuchtet, aus Hunderten Bullaugen strahlt. Leuschner hat dem Werk einen Spitznamen gegeben: „Sputnik“, wie der erste künstliche Erdsatellit. Im Russischen bedeutet das Wort „Weggefährte“ – davon hat der Gigant jede Menge: kleinere Objekte aus Leim und Bambus, dabei nicht weniger imposant, weil sie ein buntes Innenleben besitzen, gestaltet aus Kupferdraht und Kunststoff – der Fischen die Mägen verstopft.
In ihrem Münchner Atelier stapeln sich Bambusrohre neben Seidenkokons, Muscheln und anderes Strandgut. Auf einem Schrank lagert ein Stofftuch, das Leuschner gemäß japanischer Shibori-Technik geknotet, gefaltet und genäht hat. Es dient als Gerüst, auf das die Bildhauerin Porzellanmasse aufträgt. Beim Brennen im Ofen verschwindet das Tuch, und es entstehen Porzellanobjekte mit filigranen Oberflächenstrukturen und feinen Mustern wie bei Korallen, „Where have all the colors gone“ heißt die Werkgruppe. Erst auf den zweiten Blick bemerkt der Betrachter die vielen Risse und Brüche der Objekte und die Abwesenheit von Farbe – Anspielungen auf das Korallensterben.
Ihr Talent, mit Materialien zu experimentieren, entdeckte Doris Leuschner
während ihres Fotodesign-Studiums in Bielefeld. Dass sie danach nicht an die Küste zog, sondern ins Voralpenland, kann als kleiner Irrweg Amors verbucht werden. Das Tauchen und regelmäßige Wochenenden an Nord- und Ostsee linderten die Sehnsucht. Doch die hat nun ein Ende: Die Künstlerin und ihr Mann beziehen bald einen Vierkanthof an der dänischen Nordseeküste. Holmsland Klit, eine etwa 30 Kilometer lange Nehrung, wird zum Lebensmittelpunkt. Nur die Dünen trennen die Künstlerin dann noch vom Wasser. Und Strandgut fürs Atelier findet sich künftig direkt vor der Haustür. Robert Zsolnay
Künftige Ausstellungen:
NVK Ceramics Triennial 2021, 7. März bis 30. Mai, Coda Museum,
Apeldoorn, Niederlande;
„White Out“, 22. Mai bis 20. Juni, Kunst- und Gewerbeverein Regensburg

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 144. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

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mare No. 144Februar / März 2021

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