Im Koffer entdeckt
Autodidakt Friedrich „Fide“ Struck fotografierte zwischen 1930 und 1933 im Hafen von Hamburg. Seine Bilder sind erstmalig zu sehen
Die Fischauktionshalle und die Hamburger Börse: Auf sehr unterschiedlichem Parkett bewegte sich der 1899 geborene Hamburger Fotograf Friedrich „Fide“ Struck. Doch gänzlich unbekannt sind seine Bilder, die nun im Altonaer Museum in Zusammenarbeit mit der Stiftung F. C. Gundlach und der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zum ersten Mal präsentiert werden.
Zwei der schönsten Exponate der von Sebastian Lux kuratierten Schau „Fisch. Gemüse. Wertpapiere. Fide Struck fotografiert Hamburg 1930–33“ zeigen das Geschehen von oben: jener Blick auf die Fischhändler und jener auf die Börsianer, eingefangen zwischen 1930 und 1933 – ganz genau konnten diese Arbeiten bisher nicht datiert werden. Der Blick von oben ist ähnlich. Die Menschen, ihre Kleidung, ihre Hüte sind indes verschieden. Die Fischhändler entdecken den Fotografen, geben den Blick der Kamera zurück. An der Börse bleibt Fide Struck unerkannt – fotografiert aus weiterer Distanz.
Manche der Silbergelatineabzüge (zu sehen sind auch einige der originalen Glasnegative) haben eher konventionellen Charakter – wie jenes Motiv, das einen Arbeiter in einer Fischräucherei zeigt. Andere Werke wieder erfüllen den Anspruch der Fotoavantgarde, des „neuen Sehens“, der Wirklichkeit markante, neue Perspektiven abzuringen. Der Autodidakt und Arbeiterfotograf verfolgte „avantgardistische Ambitionen im angewandten Kontext“, so Kurator Sebastian Lux, „und seine Bilder sind technisch einwandfrei“.
Fide Strucks Werk, das sich seit Mitte der 1920er-Jahre entwickelte, ist eine vollkommene Neuentdeckung. Es wurde bisher nie publiziert oder ausgestellt – auch nicht zur Zeit seiner Entstehung. 2015 entdeckte sein Sohn, der Filmemacher Thomas Struck, einen Holzkoffer mit den Glasnegativen.
Struck ist vielleicht weniger als Avantgardist, sondern vor allem als empathischer Schilderer norddeutscher Arbeits- und Lebenskultur bedeutsam. Doch Strucks sozialdokumentarisches Werk konnte während der NS-Zeit nicht wachsen, im Gegenteil: Nach 1933 arbeitete Struck für eine Baufirma, für die er gelegentlich Bauschäden fotografisch dokumentierte. Zudem entstanden weiterhin Familienfotos, von denen er manche in Alben klebte. „Bildreportagen hat er aber offenbar keine mehr fotografiert“, so Kurator Lux. So endet dieses fotografische Werk, das man nun in Altona erstmals bestaunen kann. Marc Peschke
Ausstellung Hamburg: „Fisch. Gemüse. Wertpapiere. Fide Struck fotografiert Hamburg 1930–33“, Altonaer Museum, Hamburg, bis 23. November, www.altonaer-museum.de
Für immer verschwunden
Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht hat ein 1000-seitiges Buch über die Artenvernichtung geschrieben: deprimierend, aber wichtig
Wir wissen zu wenig, aber doch genug. Zu wenig wissen wir über die Zahl und die Lebensweise der auf der Erde existierenden Arten. Wir wissen nicht, wie viele Arten es tatsächlich gibt. Was wir aber wissen können, ist, dass wir die meisten dieser uns unbekannten Arten nicht mehr kennenlernen werden, weil sie ausgestorben sein werden, bevor wir sie überhaupt nur bestimmt haben. Und das gilt selbst, wenn von heute auf morgen die die Erderwärmung verursachenden Faktoren, wie der CO2-Ausstoß der menschlichen Gesellschaften, sofort gestoppt würde.
Das ist die Lage, in die der Evolutionsbiologe und Systematiker Matthias Glaubrecht, der an der Universität Hamburg als Professor für Biodiversität forscht und lehrt, sein Buch „Das Ende der Evolution“ schreibt. „Der Mensch und die Vernichtung der Arten“ heißt es im Untertitel, und damit lässt Glaubrecht keinen Zweifel an seiner eigenen Positionierung. Für ihn sind es die Menschen und ihre Formen des Wirtschaftens und Zusammenlebens in den sogenannten entwickelten Ländern dieser Erde, die die unfassbare Zerstörung von Lebewesen und lebendigen Systemen unserer Tage verursachen. An die eine Million Arten drohen bereits in den nächsten Jahren für immer zu verschwinden. Eine Tatsache, aus der Glaubrechts Titel seine reale Kraft zieht. Denn als Evolutionsbiologe weiß er, dass das, was verschwindet, für immer verschwunden sein wird, weil die Evolution ein irreversibler Prozess ist.
Auf mehr als 1000 Seiten breitet Glaubrecht seine Bestandsaufnahme des aktuellen Arten- und Lebensraumsterbens aus, und dass man bei dem dabei sichtbar werdenden Horror die Lust am Lesen nicht verliert, hat verschiedene Gründe. Zum einen ist Glaubrecht ein erprobter Erzähler, der das Kunststück beherrscht, sich nicht in seine eigenen Sätze zu verlieben und dabei seinen Gegenstand aus den Augen zu verlieren. Glaubrecht schreibt immer im Angesicht seiner Objekte, seien es Würmer, Insekten, Fische oder eben auch Menschen. Zum anderen hat er ein überaus gesundes Verhältnis zur Wissenschaft selbst. Was die Wissenschaft nicht klar sagen kann, wird auch bei Glaubrecht nicht klarer, als es ist. Er weiß um die produktive Kraft der Kritik auch in den Wissenschaften, und das ist äußerst angenehm, weil es von vornherein klarmacht, dass hier kein allwissender Schulmeister schreibt, sondern ein um Vermittlung bemühter Lehrer.
Und so führt Glaubrecht auch in das Problem der Artenzahl ein. Bis in die 1980er-Jahre geisterte ohne Berechnungsgrundlage die Zahl von einer Million auf der Erde lebender Arten nicht nur durch die Fachwelt. Bis der amerikanische Insektenforscher Terry Erwin endgültig damit aufräumte. Erwin, ein Spezialist für winzige tropische Käfer, hatte Bäume einer einzigen Art mit Insektiziden eingesprüht und die heruntergefallenen Käfer gezählt. Wie Erwin herausfand, lebten allein auf diesem Baum 1200 verschiedene Käferarten. Hochgerechnet auf die etwa 50 000 tropischen Baumarten, kam Erwin schließlich auf eine Gesamtfauna von allein 30 Millionen Gliederfüßerarten.
Glaubrecht erzählt die Geschichte dieses Dammbruchs um die Weltartenzahl so, dass man auch einen Einblick in die Methoden und Schwierigkeiten bekommt, die die Forscherinnen und Forscher bei diesen Prozeduren haben. Es ist nicht das einzige Kapitel, das Glaubrecht bei aller Sachlichkeit wie einen Krimi erzählt. Das Verschwinden von Aalen, Lachsen, Stören und Zandern aus den Meeren und Flüssen stellt er in der geschichtlichen Entwicklung so dar, dass er sie immer mit dem technischen Fortschritt verbindet, und er vergisst auch nicht zu erwähnen, wer dabei neben den Tieren noch auf der Strecke geblieben ist. Am Beispiel der Entwicklung des Stints, eines einst sehr häufigen Küstenfischs, der vom Armeleutefisch zu einer Rarität im Fischrestaurant wurde, die Feinschmeckern zur heiß begehrten Delikatesse geworden ist, zeigt Glaubrecht, dass nicht nur der Stint verschwindet, sondern mit ihm auch die alten Fischer.
Überhaupt ist die Geschichte der „Erschöpfung und Verwüstung der Meere“, wie ein Abschnitt überschrieben ist, ein Lehrstück in gleich doppelter Wirklichkeitsvernichtung. Indem man die Meere bis ins 20. Jahrhundert hinein für unerschöpflich hielt, tat man nicht nur der spezifischen Natur von Korallenriffen, Fischen und Walen durch falsches Denken Unrecht an. Man ruinierte auch das Denken mit bis heute spürbaren Folgen, indem man die wirtschaftliche Rationalität von den tatsächlichen Ressourcen entkoppelte – mit dem Ergebnis, dass nicht nur einzelne Fischarten verschwinden, sondern auch die Menge an Fisch immer mehr schrumpft, während wir mehr Fisch aus dem Meer holen als je zuvor.
Natur- und Menschengeschichte stehen in Glaubrechts Panoptikum in einer permanenten Wechselwirkung, und auch deshalb verweigert er jede Hierarchisierung in der Bewertung der Tierarten. Die Frage, welche Tierart man nun unbedingt vor dem Aussterben retten sollte, beantwort er eindeutig: alle. Cord Riechelmann
Matthias Glaubrecht: „Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten“, C. Bertelsmann, München, 2019, 1072 Seiten, 38 Euro
Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 139. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.
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