Medusen übernehmen die Welt
Sechs Jahre Arbeit stecken in diesem englischsprachigen Mammutwerk, das alle bekannten Quallenarten vorstellt
Sechs Jahre hat es gedauert, dieses opulente und zugleich ästhetische Werk zu vollenden. Eigentlich wollte Gerhard Jarms, weltweit anerkannter Medusenspezialist und einer der Herausgeber, schon 2013 fertig sein – mit Beginn seines Ruhestands. Das erzählt er mit sarkastischem Unterton zur Buchpräsentation an seiner ehemaligen Arbeitsstätte, dem Centrum für Naturkunde der Universität Hamburg. Die Vielfalt seiner Forschungsobjekte zwischen zwei Buchdeckel zu pressen war dann doch aufwendiger als gedacht. Nun aber haben alle der rund 260 weltweit bekannten Medusenarten ihren Platz in dem kiloschweren Nachschlagewerk gefunden.
Viele Arten hat „Dr. Qualle“, so der Spitzname des Meeresforschers Jarms, selbst entdeckt und erstmals beschrieben. Darunter eine kleine Würfelqualle, die er nach seinem Kollegen und Co-Autor André C. Morandini benannte. „Darüber bin ich sehr glücklich“, versichert der brasilianische Biologe, der zur Veröffentlichung ihres Gemeinschaftswerks eigens aus seiner Heimat anreiste. Auf die Frage, ob der Nesseltierprofessor von der Universität São Paulo über die Benennung glücklich sei, weil sich unter den Würfelquallen eines der giftigsten Tiere des Planeten befände, lächelt er verschmitzt. Dieses Tier ist die Seewespe. Ihr Gift reicht aus, um 250 Menschen zu töten. Zum Glück sind nicht alle Quallen so – im Gegenteil, meist sind sie für Menschen harmlos.
Die akribische Arbeit, alle Arten vorzustellen, wurde überwiegend ehrenamtlich geleistet und von Experten weltweit unterstützt. Dabei ist der „Weltatlas der Quallen“ ausdrücklich auch für Nichtzoologen geschrieben, etwa für Taucher, Fotografen oder Mediziner, die mehr über die seltsamen Wesen wissen wollen. Was der Laie oft als „glibberig“ oder gar „eklig“ beschreibt, sind für Wissenschaftler „perfekt an das Leben im Meer angepasste Tiere, die sich harmonisch bewegen“. Und das seit erdgeschichtlich langer Zeit, wie 200 Millionen Jahre alte Fossilien im Solnhofener Plattenkalk belegen. Dabei gibt es noch ältere, 550 Millionen Jahre alt. Durch Aufklärung hofft Jarms, die Abneigung in Verständnis wandeln zu können.
Zahlreiche Abbildungen schmücken den Atlas, darunter auch erstmals veröffentlichte Zeichnungen Ernst Haeckels. Der große Naturforscher hatte für seine Monografie über Medusen die entsprechenden Fänge einer Tiefsee-Expedition in den 1870er-Jahren ausgewertet. „150 Jahre nach Erscheinen von Haeckels Klassiker bedurfte es dringend einer Aktualisierung“, sagte Morandini. Und die wird auch in Zukunft nötig sein: Inzwischen wurden nämlich neun weitere Arten entdeckt. Monika Rößiger
Gerhard Jarms und André C. Morandini (Hrsg.): „World Atlas of Jellyfish“, Abhandlungen des Naturwissenschaftlichen Vereins in Hamburg, englischsprachige Ausgabe, Dölling und Galitz, Hamburg, 816 Seiten, 1250 Abbildungen, 99 Euro
Das Leuchten der Tiefe
Eine Illustratorin und ein Wissenschaftler haben ein Buch für Kinder geschaffen, das auch Erwachsene verzaubert
Zwei Füße auf sonnenbeschienenem grobkörnigem Sand am Strand, darum herum Muscheln und Schneckenhäuser, ein Krebs, der zu fliehen scheint. Eine erste Welle mit weißer Gischt lockt, endlich einzutauchen ins Meer. So beginnt die Reise in die Tiefsee auf der ersten Seite, sie strahlt im goldgelben Glanz der Sonne. Danach ist es überwiegend dunkel, doch dann erscheinen strahlende leuchtende Flecken. Es sind Oktopusbabys, Ruderkrebs- oder Fischlarven, sie schwirren durcheinander auf tiefblauem Grund und zeigen: Im Meer wimmelt es nur so von Leben.
Die Autoren reisen mit ihren großformatigen Zeichnungen Meter für Meter in die Tiefe und stellen diese vielfältige Welt vor. Denn lange glaubte man, im ewigen Dunkel der Tiefsee gebe es kein Leben zu entdecken. Was für ein Trugschluss.
Die Wissenschaftsillustratorin Annika Siems hat diese Welt mit magisch schönen Bildern gemalt. So droht ein rosa-blauer Riesenkalmar gefährlich mit langen Tentakeln über die Doppelseite, oder eine rote Garnele schießt einem angreifenden Drachenfisch eine Wolke aus explodierendem blauen Licht ins offene Maul, um sich damit außer Reichweite zu katapultieren.
Auf den Bildern finden sich kleine Texte von Wolfgang Dreyer, dem ehemaligen Leiter des Zoologischen Museums der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Dreyer erklärt verständlich das Prinzip des Lebens in der Tiefe. Wie funktioniert die Fotosynthese? Warum funkeln die Leuchtorgane von Kalmaren wie Diamanten? Oder wie tarnen durchsichtige Quallen ihre Nahrung im Magen? Oder er erklärt die Biologie von exotisch klingenden Meerwesen wie den Vampirtintenfischen, Zombiewürmern oder Seespinnen.
Es ist ein Kinderbuch, und das ist es auf fantastische Weise – aber auch Erwachsene werden sich der hypnotisch schönen Bilderwelt kaum entziehen können.
Am Ende, in 6000 Meter Tiefe, stellen die Autoren eine aktuelle Entdeckung vor: den Fund eines verendeten Wals. Ein Schlaraffenland bietet der 50 Tonnen schwere Kadaver für die Bewohner in der Tiefe. Siems zeichnet, wie sich kleine Würmer, Flohkrebse, Schleimaale, Chimären und ein bräunlich gefärbter Schokoladenhai auf diesen Leckerbissen stürzen. Übrig bleibt im Dunkel des Meeresgrunds ein riesiges abgenagtes, bläuliches Walskelett.
Doch damit endet es nicht. Auf der allerletzten Seite, auf der sonst eigentlich das Impressum steht, sieht man ein Wesen in zartrosa und blauen Farbtönen leuchtend dem oberen Bildrand entschweben – eine Staatsqualle, Siphonophorae genannt. Auch sie ein Wesen der tiefen See. Katja Maria Engel
Annika Siems, Wolfgang Dreyer: „Eine Reise in die geheimnisvolle Tiefsee“, Prestel, München, 2019, 96 Seiten, 25 Euro
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