Die neue Mythologie der Seeungeheuer
Kryptozoologie – ein Buch über Sagen und Fakten der Tiefseemonster
Und Gott schuf die großen Seeungeheuer und alle sich regenden, lebenden Wesen, von denen die Wasser wimmeln.“ So steht es in der Genesis, der Schöpfungsgeschichte, im ersten Buch Moses. Seit diesem vierten Tag der Schöpfung haben die Seeungeheuer nichts an ihrer Faszination eingebüßt. Abgesehen von den vielen anderen biblischen Erzählungen, den Fabeln und Märchen, den zahlreichen Augenzeugenberichten sowie dem unter Seeleuten all zu oft gesponnenen Seemannsgarn, sind die Seeungeheuer inzwischen auch in eine wissenschaftliche Forschungsdisziplin, die Kryptozoologie, die Lehre von den unbekannten, den „versteckten“ Tieren, eingegangen. Die menschliche Psyche scheint eine Eigenschaft aufzuweisen, die uns die Weltmeere mit Monstern bevölkern läßt. Ob es sie tatsächlich gibt, dieser Frage geht Richard Ellis in seinem neu erschienen Buch „Seeungeheuer. Mythen, Fabeln und Fakten“ nach.
Er klärt den Leser auf, was sich hinter dem Mythos dieser zunächst unheimlich anmutenden Meeresgeschöpfe verbirgt, wie sich ihre bis in unsere Zeit immer wiederkehrenden Sichtungen erklären lassen, und welches die wahren Eigenschaften dieser unbekannten Kreaturen sind. Der Autor trägt dabei zahlreiche zeitgenössische Augenzeugenberichte zusammen, läßt Kritiker, Kryptozoologen und andere Wissenschaftler zu Wort kommen und beschreibt in für den Laien gut verständlicher Weise auch die Biologie einiger vermeintlicher Monster. Schließlich weist Ellis darauf hin, wie es heute um die Seeungeheuer bestellt ist. Die meisten dieser Scheusale von einst sind zu einer bedrohten Spezies geworden:
„Zuerst ist da ein unbekanntes Meeresgeschöpf, unbeschrieben und ohne Namen – und furchterregend, weil wir nicht wissen, was es ist. Dann taucht es auf aus den Nebeln der Mythologie und nimmt physische Realität an, die es uns identifizieren und katalogisieren läßt. Wenn wir soweit sind, können wir es jagen – als Nahrung, zum sportlichen Vergnügen oder als Trophäe.“
So erwiesen sich schiffeversenkende Kraken als Mythos, die großen Wale als friedfertige Zeitgenossen, denen im industriellen Maßstab mit Fabrikschiffen nachgestellt wird. Und die letzten Seejungfrauen, die Menschen verleiteten und quälten, haben wohl in der Odysee ihr Unwesen getrieben. Die Seekühe hingegen, mit wissenschaftlichem Namen Sirenia, sind friedfertige Algenfresser, heute weltweit unter Schutz stehend. Wie notwendig solche Schutzmaßnahmen sind, zeigt sich an ihrem Beispiel besonders deutlich: Die Steller’schen Seekühe, Verwandte der heute noch lebenden Manatis und Dugongs, waren bereits 27 Jahre nach ihrer Entdeckung im 18. Jahrhundert auf den Aleuten ausgerottet. Ellis Werk ist mit zahlreichen Grafiken, Fotos und zeitgenössischen Stichen illustriert, die dem Leser eine gute Vorstellung von den „Ungetümen“ der Meere und wie der Mensch diese in der Vergangenheit wahrgenommen hat, vermitteln. Und bei aller Entmystifizierung bleibt in den unendlichen Tiefen der Weltmeere, die weitaus weniger erforscht sind als unsere nächsten Planeten, noch viel Platz für wissenschaftliche Spekulationen über die Existenz weiterer unbekannter Kreaturen. Nicht zuletzt die Entdeckung des Quastenflossers, von dem man annahm, daß er bereits vor 70 Millionen Jahren ausgestorben war, oder gar der späte Fund eines fünf Meter großen Riesenmaulhais im Jahr 1976, der nur, weil er einen Treibanker eines US-Militärschiffs verschluckt hatte, ans Tageslicht gehievt wurde, haben die Kryptozoologen in ihrem unerschütterlichen Optimismus bestärkt, die Suche nach unbekannten Meereskreaturen fortzuführen. So wird die Psyche des Menschen, die ihn in jeder Begegnung mit einem ihm augenscheinlich überlegenen, unbekannten Tier zunächst etwas Ungeheuerliches sehen läßt, weiterhin für Mystik und Faszination sorgen. Aber was wären die Meere ohne ihre unbekannten Kreaturen? Doch nichts anderes als ein langer traumloser Schlaf. Marcus A. York
Richard Ellis, „Seeungeheuer. Mythen, Fabeln und Fakten“, Birkhäuser Verlag, Basel, Boston, Berlin, 1997, 392 Seiten; Preis: 58 Mark
Konsequenzen an der Küste von Maine
Ein Schiffsunglück im Jahre 1941 ist Hintergrund des Romans „Meereswunden“ von Peter Landesman
Schiffsunglücken haftet immer auch etwas Rätselhaftes, etwas Geheimnisvolles an: die Wracks rosten in tausenden Metern Tiefe vor sich hin, das Meer schweigt sich aus. Diesem Schweigen dennoch irgendein Indiz, eine Aussage abzutrotzen, hat sich der neunzehnjährige Ezra im Roman „Meereswunden“ von Peter Landesman zur Aufgabe gestellt. Er ist der Sohn eines Hummerfischers in einem Dorf voller Hummerfischer, deren Welt das Meer ist, die Sprache des Wassers, die haushohe Welle, die auf einen zudonnert, die Klippen, die unter der Wasseroberfläche lauern. Wie die anderen Fischer hat auch Ezra nicht einmal schwimmen gelernt. Es ist, als wollten sie alle die Sinnlosigkeit jedes Widerstands gegen ein Meer kundtun, das im Zweifelsfalle doch die Oberhand behält.
So wie im Falle des Vergnügungsdampfers „Raven“, der am 29.6.1941 mit 35 Menschen an Bord vor der Küste von Maine spurlos verschwand. War es ein Unglück, menschliches Versagen oder gar Versicherungsbetrug? War es ein deutsches U-Boot, oder hatte der Kapitän zuviel getrunken? Auf der einen Seite stehen die fassungslosen Hinterbliebenen aus dem Industriestädtchen Rehoboth, die noch jahrzehntelang auf ein Lebenszeichen der Verschwundenen warten. Und dann sind da die Hummerfischer aus Mackerel Cove, rauhe, zum Teil zwielichtige Gesellen, die die Leichen der Frauen und Kinder in ihren Netzen an Land ziehen, während die Überreste der Männer verschwunden bleiben – Anlaß genug für spekulative Zeitungsberichte, gespickt mit Fakten und Gerüchten.
Vor diesem Hintergrund spielt der Erstlingsroman „Meereswunden“ des 33jährigen Amerikaners Peter Landesman, ein von der ersten bis zur letzten Zeile mitreißendes Buch. Spannend nicht nur aufgrund einer geheimnisumwobenen Recherche, sondern vor allem wegen der Sprachkraft des Autors, der eine Vielzahl von stimmigen Personen entwirft: in erster Linie Ezra, der Fischer und Collegestudent, der über Jahrzehnte hinweg den Versuch unternimmt, das Unfaßbare in Worte zu fassen und zu verstehen; oder Mavis, das junge Mädchen aus Rehoboth, das bei dem Unglück die Brüder und den Vater verlor. Man ist versucht zu sagen, Landesmann navigiert in einem Boot aus Worten auf einem Meer aus Worten, dem er sich so waghalsig wie souverän aussetzt, um nach Erinnerungen zu fischen, alle Höhen und Tiefen auszuloten und schließlich doch bescheiden – als Landesmann eben – wieder anzulanden.
Ist das „Maß der Dinge“ für die einen Bewohner die Papierfabrik und für die anderen das Meer, so schiebt sich im Verlaufe des Romans mit seinen Zeitabschnitten 1941, 1952 und 1985 eine weitere Person immer stärker in den Vordergrund, die ein lukratives Spiel mit der Wirklichkeit betreibt: Leslie Everett Dove, sensationsgeiler Verfasser etlicher Bestseller, der sich „einen Dreck um Tatsachen“ schert und die Geschichte der „Raven“ neu auflegen will. Ebenso wie Ezra kommt er den schmutzigen Geschäften auf die Spur, die sich hinter dem Schiffsunglück verbergen. Nur – die Wahrheit hält er damit noch lange nicht in Händen. Und das ist es vielleicht auch, was Landesman in seinem Buch sagen will. Ezras Vater führt den Schreiberling auf dem Meer vor: „Sie reden über Schicksal und Bestimmung und all solchen Quatsch. Da draußen gibt es so was wie Gut und Böse oder Schicksal und Bestimmung nicht. Es gibt nur Konsequenzen. Aber mit dem Bösen kann man Bücher verkaufen, nicht wahr? Mit Konsequenzen nicht.“
In dem Sinne hätte ich mich als Leserin durchaus damit zufriedengegeben, wenn der Untergang der „Raven“ ein Rätsel geblieben wäre. Daß Landesman in einem allerletzten Kapitel dieser Sucht nach Aufklärung doch noch nachkommt und – aus der Sicht des Kapitäns der „Raven“ – beschreibt, was damals geschah, mag sein Zugeständnis an den literarischen Markt sein. Oder eine Brücke zwischen der Realität des Meeres und jener der Fiktion. Barbara Krohn
Peter Landesman, „Meereswunden“, Aus dem Amerikanischen von Hans-Ulrich Möhring; List Verlag München 1997, 465 Seiten; Preis: 44 Mark
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