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Titanic am Broadway
Die Unsinkbare ist wieder aufgetaucht und schreibt in New York Theatergeschichte

Täglich läuft sie um acht Uhr abends aus und sinkt zweieinhalb Stunden später pünktlich gegen halb elf in den Wogen eines entfesselten Orchesterklangs.

Schon in der Ouvertüre, groß, drängend und majestätisch wie eine Welle vor dem Bug des legendären Dampfers, klingen die Themen an, die das Schiff in den Untergang begleiten werden. Der unglückliche Ingenieur, der das Schiff entworfen hat, singt das hohe Lied des technischen Fortschritts. Am Schluß des Abends, kurz bevor er mit seinem Werk sinken wird, wird er in einer Reprise seines Themas Gelegenheit haben, seine Pläne zu überdenken und zu bereuen. Zu bereuen, daß die doppelten Kammern der Schiffswand nur bis auf die Höhe des C-Decks gingen, damit die Kabinen der Passagiere in der ersten Klasse geräumiger ausfielen… Auch die anderen Umstände, die zum Sinken der Unsinkbaren führten, so erfahren wir im Verlauf, sind menschlichem Versagen und menschlicher Hybris anzulasten.

Die Katastrophe wird als ein Bouquet von anrührenden Biographien erzählt. Da sind die irischen und deutschen Auswanderer in der dritten Klasse, die von einem neuen, besseren Leben in Amerika träumen („in America, you raise above your class“), die Zweite-Klasse-Paare, die sich eine ganz besondere Reise gönnen wollen („I have danced with the first class“), und endlich in der ersten Klasse die Creme der amerikanischen Millionäre, denen es Verpflichtung ist, die Jungfernfahrt dieses „Ship of Dreams“ mitzumachen („they have been wintering on the French Riviera“): die Astors, die Guggenheims, die Straus’. Auch eine große Unbekannte, die mit vierzehn Schiffskoffern, eigenen Kissen und vier Pekinesen reist („she must be somebody“) und später im Herrenzimmer zu Zigarren und einer Partie Bridge wieder auftauchen wird („there is a new world out there“), ist an Bord. In einer großartigen Ensembleszene am Dock in Southampton gehen die unterschiedlichen Passagiere an Bord: „I Must Get On That Ship“, das musikalische Thema wird wieder anklingen, wenn Frauen und Kinder im zweiten Akt in die Rettungsboote steigen.

Im euphorisch festlichen ersten Akt lernen wir außer den Passagieren die gemeinen Seeleute, den Kapitän und den Eigner näher kennen. Mit Tanz und Spielen, Lunch und Liebeleien vertreibt man sich die Zeit auf den verschiedenen Decks („doing the latest rag“). Der ehrgeizige Eigner treibt den müden, alten Kapitän zu risikoreicher Maximalgeschwindigkeit, ein Heizer mit Heimweh diktiert dem Funker einen Heiratsantrag an seine Geliebte, und die sich häufenden Eisberg-Warnungen werden ignoriert. Im Ausguck sitzt ein Matrose ohne Fernrohr. „No Moon, no Wind“ sind die Worte seines schläfrigen Songs. Dann der Eisberg und die Kollision, Aktschluß und die Pause.

Zweieinhalb Stunden dauerte es in der Nacht des 15. Aprils 1912, bis sich die historische „Titanic“ nach der Kollision steil aufrichtete, einen Moment lang so stehen blieb und dann in wenigen Sekunden rauschend in die Tiefe sank. Dieser endlosen Zeit der langsam reifenden Erkenntnis an Bord ist der zweite, düstere Akt gewidmet. Die Unsinkbare sinkt. Der Ingenieur zerfleischt sich in Selbstvorwürfen, Eigner, Kapitän und Ingenieur geben sich gegenseitig die Schuld, während der Funker verzweifelt und vergeblich versucht, ein Schiff in der Nähe zu erreichen. Umsonst, dreiviertel der Passagiere und der Besatzung werden sterben. Vorher aber hält ein zu Tränen rührendes Liebesduett des alten jüdischen Ehepaares Straus den Gang der Dinge noch einen zärtlichen Augenblick lang auf. Sie hat sich geweigert, ohne ihren Mann von Bord zu gehen. In Nachthemd, Pelzmantel und Rettungsweste trinken sie in der mondlosen eisigen Nacht ein letztes Mal Champagner. Sie leeren ihre Gläser, und wie bei ihrer Hochzeit zerstampft er nach alter Sitte das Glas. Nach diesem stillen Moment neigt sich die Geschichte schnell und durchaus wörtlich dem Untergang zu. Eine lautlose Hydraulik bringt die Decks der Bühne in eine so steile Schräglage, daß Menschen und Möbel ins Rutschen geraten. Singend, schreiend und gestikulierend verschwinden die Zurückgebliebenen endlich hinter einem von unten nach oben aufsteigenden schwarzen Vorhang, während das Orchester ihre Stimmen in einem wogenden Fortissimo ertränkt. Hansjörg Gadient

Die „Titanic“ sinkt im „Lunt-Fontanne Theatre“ in der 46sten Straße, direkt am Times Square. Vorstellungen täglich außer sonntags. Reguläre Preise zwischen 50 und 75 Dollar, nachmittags fünf Dollar weniger. Die CD mit der originalen Broadwaybesetzung „Titanic – A New Musical“ ist bei RCA Victor erschienen.


Aus der Ferne in die Pfanne
Auf den kulinarischen Spuren der Fischer rund um die Nordküste des Mittelmeers

Anfang war der Sandkasten. Auf dieser kleinen Feuerstelle, die es einst auf jedem Fischerboot gab, brieten die Seeleute, was an Land nicht gut zu verkaufen war. Seeteufel zum Beispiel, ein wohlschmeckender und einfach zuzubereitender Fisch von so schauderhafter Häßlichkeit, daß Fischer den Seeteufel bis in die sechziger Jahre wieder zurück ins Meer warfen – wenn sie ihn nicht selbst aßen. Rezepte nach Art der Fischer waren immer einfach. Gekocht wurde mit dem, was das Meer und der mitgeführte Proviant boten: je nach Region Reis, Nudeln, Kartoffeln oder Brot, dazu Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten am Zopf, verfeinert mit einfachem Landwein oder einem Schuß Brandy.

Was aus der Vielfalt eßbarer Meerestiere seinen kulinarischen Ursprung im Sandkasten hat, haben Frank Schauhoff und Tonina Oliver auf den Teller gebracht. Ob Drachenkopf, Sardine oder Makrele, Katzenhai, Languste oder Rochen – für das Koch-, Reise- und Lesebuch „Zu Gast in den Fischerhäfen des Mittelmeeres“ haben sie zusammengetragen, wie im westlichen Mittelmeer an Bord gekocht wurde.

So ist Kochbuchsammler Schauhoff dem Geheimnis der Bouillabaisse nachgegangen, der Königin der Fischsuppen, deren Schöpfung Marseille, Korsika und die Provence gleichermaßen für sich reklamieren. Angesichts von hunderten Geheimrezepten für die „wahre“ Bouillabaisse besteht zumindest Einigkeit darüber, daß der verwendete Fisch zu gleichen Teilen ferme (fest, wie Knurrhahn oder Meeraal) beziehungsweise tendre (mürbe, wie Seewolf, Lippfisch oder ähnliche) sein soll. Zur frisch servierten Suppe gibt es geröstetes Weißbrot und Rouille, eine scharfe Aïoli-Variante, die aus Chili- und Paprikaschoten, Knoblauch, Safran und Harrissapaste zubereitet wird.

Auf der kulinarischen Reise entlang der Nordküste des Mittelmeers gibt es einiges über die Kulturgeschichte der Regionen zu erfahren. Zum Beispiel Korsika: Von den 300 Fischerbooten, die heute zum Fang auslaufen, sind die meisten älter als 50 Jahre. Kannte man früher rund 150 Fischsorten, die auf Korsika gehandelt wurden, gehen heute noch 75 Arten regelmäßig in die Netze. Das Geschäft läuft dennoch nicht schlecht: Wenn im Sommer die Touristen auf den Terrassen der Hafenlokale sitzen und frischen Fisch oder Schalentiere bestellen, sind es die Fischer, die den Preis bestimmen. Die hohen Preise für frischen Fisch schützen die deutlich geschrumpften Bestände.

Mit Liebe zum Detail stehen in dem prachtvoll ausgestatteten Band Schnurren und Anekdoten zu kulinarischen, maritimen und regionalen Eigenheiten neben exakten, leicht nachzukochenden Rezepten, die auch nördlich der Alpen realisierbar sind. Die spanischen Fotografen Carlos Agustín und Belén Tánago haben dazu Bilder von Fischern und Fischerorten eingefangen, die abseits von liebenswürdiger Romantik Netze flickender Seebären Menschen bei der Arbeit und ihre Landschaft zeigen.

Der ausführliche Anhang mit Einkaufstips, dem Schnellkurs „Wie erkenne ich frischen Fisch?“ und einem Fischlexikon in fünf Sprachen bewahrt vor den gröbsten Schnitzern an der Pier und auf dem Markt. Die schönen Illustrationen ermöglichen es auch Laien, Zackenbarsch und Zahnbrasse voneinander zu unterscheiden. Leider liegt das überaus funktionale Kompendium dem großformatigen Bildband nicht separat im Hosentaschenformat bei. Da hilft nur Vokabeln üben vor dem Marktgang.

Mitgeliefert wird auch eine kleine Bootskunde. Außer der vor unserer Zeitrechnung entstandenen und bis vor kurzem dominierenden „barche latine“, der schnellen sizilianischen „speronana“ und ursprünglich zweimastigen „tartane“ werden ein rundes Dutzend Bootstypen ausführlich und mit Bild vorgestellt. Eine Lektion maritimer Genealogie ist die Geschichte des nur fünf Meter langen „gozzo per la pesca“. Das heute mit Dieselmotor und einer Motorwinde für das Netz ausgestattete „gozzo“ stammt von der franzö-sischen „barquette“ ab, einem kleinen Ruderboot, das, getakelt mit einem Lateinersegel, im 18. Jahrhundert zwischen Côte d’Azur, Italien und Korsika das Fischerboot schlechthin war.

Die Lesereise durch die Fischerhäfen des Mittelmeers ist ein Genuß – für Küche, Hotelzimmer und Salon gleichermaßen. Stefan Gerhard

Frank Schauhoff und Tonina Oliver, „Zu Gast in den Fischerhäfen des Mittelmeeres“, DuMont, Köln 1997, 124 Seiten, zahlreiche Farbfotos, Preis: 49,90 Mark


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 4. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 4

No. 4Oktober / November 1997

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