Die Lust an der Betrübtheit
Fado – Musik voller ozeanischer Trauer aus den verbotenen Vierteln Lissabons
Der Wind flaut ab, die Wogen glätten sich. „Der Sturm ist vorüber“, ruft das Mädchen. Aber am Ufer sind die Reste eines Wracks liegengeblieben, und von der Klippe aus haben die Frauen der Fischer mitansehen müssen, wie die Boote ihrer Männer im wütenden Tumult zerbrachen. Carlos Maria Trinidade, Keyboarder der Gruppe Madredeus, widmet sein Lied „A Tempestade“ („Der Sturm“) den Seeleuten und Fischern seines Landes. Nach dem Orkan, so endet das von den Klagegesängen der Witwen inspirierte Lied, herrscht „grande saudade“, jene sehnsüchtige Trauer, die über ganz Portugal liegt wie ein träumerischer Nebel.
Schon immer führten alle Wege der Portugiesen über Schiffsplanken. Selbst das europäische Festland konnte man in den langen Jahren der Feindschaft mit der spanischen Krone nur zu hoher See erreichen. Lissabon war die Pforte zur Welt, und alle, die herein oder heraus wollten, mußten diesen Hafen passieren. Die kleine Nation am westlichen Rand Europas hat so viele Fischer, Seefahrer, Abenteurer und Eroberer am Horizont verschwinden sehen, daß die Portugiesen zu einem Volk von Hinterbliebenen wurden.
Kein Wunder, daß sich in den verbotenen Vierteln Lissabons eine Musik herausbildete, die wörtlich übersetzt „Schicksal“ heißt und die man als Musik der Meeresgeschädigten bezeichnen könnte. Melodien, die von den Matrosen aus Arabien, Afrika und Brasilien herangetragen worden waren, verwandelten sich in den Kehlen der Verlassenen, Betrogenen und Eifersüchtigen in bewegende Zeugnisse ozeanischer Trauer: „Mein Körper ist ein Schiff ohne Hafen“ oder „Dann sah ich, daß er sich verlor in der Unendlichkeit des Meeres“ heißt es in den herzergreifenden Liedern des Fado. Fado entstammt dem nächtlichen Untergrund der Lissaboner Altstadt. Die erste Fadista, Maria Severa Onofriana, war eine Prostituierte. Erst später bahnten sich die sehnsuchtsvollen, nur von Gitarre und einer langhalsigen Laute begleiteten Gesänge ihren Weg in die offizielle Kultur und schließlich auch in die Touristenkneipen der Stadt am Tejo.
„Es ist fast unmöglich, in Portugal Musik zu machen, die nichts mit Fado zu tun hat“, sagt die 28jährige Teresa Salgueiro. Vor zwölf Jahren war die damalige Gymnasiastin in einer Bodega des Lissaboner Altstadtviertels Barrio Alto beim Fado-Singen entdeckt worden. Seitdem steht ihr melancholischer Gesang im Mittelpunkt der Musik von Madredeus, einer Mischung aus Fado, Kammer- und Volksmusik. In ihrer Heimat wird die Gruppe, die sich nach ihrem ersten Übungsraum in einer Kirche benannt hat, geradezu kultisch verehrt. 1994 begeisterte sich Regisseur Wim Wenders derart für die „friedvolle und warme Ausstrahlung“ von Madredeus, daß er die Musiker bat, in seinem Film „Lisbon Story“ aufzutreten. „Ainda“, das Soundtrack-Album des Wenders-Films, machte das Ensemble weltbekannt.
Ähnlich wie der Fado stand die Musik von Madredeus von Anfang an ganz im Dienste der Stimme und des Wortes: „Wir sind hauptsächlich von der Musikalität der portugiesischen Sprache inspiriert“, erklärt Teresa. „Wir wollen zum Ausdruck bringen, was es bedeutet, am Leben zu sein, zu lieben, sich zu ängstigen, sich schuldig zu fühlen, sich nach der Ferne zu sehnen und seinen Horizont zu öffnen.“
Dieser Horizont breitet sich über der unendlichen Weite des Atlantischen Ozeans aus, an dessen Stränden Teresa als Kind ihre dreieinhalbmonatigen Sommerferien verbrachte und an dessen Küste sie heute noch gerne spazieren geht: „Den Bewegungen des Meeres zuzusehen und seinen Geräuschen zuzuhören, ist etwas sehr Starkes und Klares, aber auch Geheimnisvolles – ein bißchen, wie wenn man in ein Feuer schaut.“
Schönheit und Vergänglichkeit, Trauer und Hoffnung gehören bei Madredeus zusammen. Pedro Ayres Magalhaes, klassisch ausgebildeter Gitarrist, ehemals Mitglied einer Rockband namens „Die Seehelden“ und inoffizieller Direktor des Ensembles, definiert die portugiesische Grundstimmung „saudade“ deshalb als „den Willen, traurig zu sein, um sich lebendig zu fühlen. Saudade ist wie ein Appell an ein intensiveres Leben“.
Auf „O Paraíso“, dem jüngsten, in Venedig aufgenommenen Album der Band, singt Teresa ein fast unbekümmert fröhliches Lied. Fast, denn auch in „O Praía da Mar“ wird das kindliche Glück am Strand von der Einsicht in die Vergänglichkeit allen Daseins bedroht oder, besser gesagt, durch sie intensiviert. „So schön ist die Welle, die kommt/wie die Welle, die ich in der Ferne sehe/und der weiße Meeresschaum in ihnen/ist wie alles Leben auf der Welt.“ Gero Guenther
Madredeus-Auswahldiskographie: „Ainda“ (EMI), „O Paraíso“ (EMI Scala)
Das Tor zur Hölle
Der wohl bedeutendste und zugleich seltsamste deutschsprachige Seefahrtsroman
Von einem Autor, der seine Werke mit Titeln versieht wie: „Jeden ereilt es“, „Die Nacht aus Blei“, „Der staubige Regenbogen“, wird man kaum erwarten, daß er im „Holzschiff“ von einer jener Seefahrten erzählt, die da lustig sein sollen und froh. Nein, gewiß nicht. Eher kann man hier erfahren, daß die Leiber der Matrosen warm sind, – „solange sie atmen“: „Etwas süßes Fleisch, etwas bittere Gedanken. Da sind Gefühle. Erinnerungen an eine Geliebte. Tränen und Flüche. Da wird ein Schiffsjunge, weil er junge Eingeweide hat, von einem Fisch geschlachtet. Mit einem Messer aufgetrennt.“
Keine lauschige Hängematte aus Seemannsgarn spinnt der Hamburger Hans Henny Jahnn in diesem wohl bedeutendsten und zugleich seltsamsten deutschsprachigen Seefahrtsroman, sondern er schildert das auf einem Segelschiff unerbittlich herankriechende Grauen, die Entstehung einer Angst, die sich zur kollektiven Paranoia auswächst. Eine ganze Schiffsbesatzung versinkt in einem Meer des Wahns und versenkt am Ende eigenhändig das Schiff auf hoher See.
Jahnn arbeitet in diesem aufregenden Buch mit den Mitteln der Kriminalgeschichte, und es wäre demnach fahrlässig, hier mehr vom Inhalt preiszugeben, als der Klappentext bereits verrät: Ein Segelschiff mit geheimnisvoller Fracht an Bord nimmt Kurs auf den Atlantik. Kapitän und Mannschaft kennen weder den Inhalt der Kisten noch das Ziel der Reise. Der Agent des Auftraggebers, eine unheimliche Figur, empfängt in Abständen per Funk die Befehle für die jeweils nächste Etappe der Fahrt, ohne daß je der Bestimmungshafen angegeben würde.
Die seltsame Ziellosigkeit, die blutigen Ereignisse beim Verstauen der sargförmigen Kisten und schließlich die Undurchschaubarkeit der meisterhaft geschilderten Architektur des Holzschiffs (Jahnn war Sohn eines Schiffsbauers) erzeugen unerträgliche Spannungen, die sich in Meutereiversuchen entladen. Als schließlich die Tochter des Kapitäns spurlos verschwindet und Mordverdacht aufkommt, überschlagen sich die Ereignisse. Zwischen allen Fronten steht der Verlobte der verschwundenen Ellena, der unbedarfte Jüngling Gustav, der als blinder Passagier an Bord blieb, um sich nicht von seiner Geliebten trennen zu müssen. Seine Aufzeichnungen aus späterer Zeit bilden dann den zweiten Teil der Trilogie „Fluß ohne Ufer“: „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn“.
Der gern als „expressionistisch“ gekennzeichnete Stil Jahnns ist gewöhnungsbedürftig. Hauptsatz reiht sich an Hauptsatz, Feststellung an Feststellung; immer wieder werden die Sätze zu einzelnen Worten verknappt. Dieser Ton wird auch in den Dialogen nicht unterbrochen. Hier werden nicht „reale“ Gespräche nachgebildet. Die Personen reden wie in Trance, jeder in seinem Raum, und manchmal hört einer den andern wie durch Watte. Die Monotonie der Darstellung und der Dialoge tritt in einen äußerst wirkungsvollen Kontrast zur Dynamik der Ereignisse. Es entsteht auf diese Weise für Leserinnen und Leser, die sich Jahnns Schreibweise zu öffnen vermögen, das paradoxe Gefühl einer betäubten Spannung oder eines gelähmten Aufruhrs, in etwa so, als stieße man kräftig und immer wieder mit dem sogenannten Musikantenknochen irgendwo an.
Jahnn, der sich nicht für „das Saubere“ interessiert, erzählt im „Holzschiff“ nicht nur vom rätselhaften Untergang des schönen Seglers, sondern auch und vor allem von einem „Geheimnis“, „das traurig und süß zugleich das Fleisch von den Knochen fallen macht und die Blindheit einer unentrinnbaren Verwesung ankündigt“. Mit der Monotonie der Fassungslosigkeit berichtet der „Tragiker der Schöpfung“, wie er treffend genannt worden ist, von dem, was geschieht. Die Buntheit der Bilder und Ereignisse kreist letztlich nur um die eine Feststellung: „Es ist, wie es ist. Und es ist fürchterlich.“ Die ziellose Reise auf dem labyrinthischen Holzschiff wird zur Allegorie eines Lebens, dessen Sinn verborgen bleibt.
Die vollkommene Trostlosigkeit dieser im Bann des ewigen Zerfalls und der Verwesung stehenden Dichtung ist gewiß nicht nach jedermanns Geschmack. Die verhaltene Resonanz auf Jahnns hundertsten Geburtstag 1994 hat das erneut bestätigt. Noch immer haftet ihm das unfreundliche Klischee an, mit Proust zur Linken und Kafka zur Rechten klumpige Romane geschrieben zu haben, die man in Form der grauen Blöcke der Hamburger Ausgabe ungelesen in den Glasregalen extravaganter Design-Haushalte findet.
Um so begrüßenswerter ist deshalb der Entschluß des Steidl Verlages, das „Holzschiff“ in einer bezahlbaren Einzelausgabe zu publizieren. So wird ermöglicht, das Tor zu der Hölle in Augenschein zu nehmen, die den, der die Nerven dazu hat, in den beiden anderen Teilen von „Fluß ohne Ufer“ erwartet. Eckart Goebel
Hans Henny Jahnn: „Das Holzschiff“, Steidl Verlag, Göttingen 1998, 251 Seiten, 20 Mark
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