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„Die Heldin liegt jeden Augenblick auf dem Boden“
Goethe fand den Stoff „gar zu stark“. Doch Die Oper „Il Pirata“ war Bellinis erstes Meisterwerk – und ihr Titel eine Mogelei. welche Einspielung ist nun die beste?

Der Titel war ein PR-Manöver. Als Vincenzo Bellini seine erste Oper für die Mailänder Scala komponierte, hatte das Textbuch noch keinen Namen. Dann wurde der neue Roman des schottischen Bestseller-Autors Sir Walter Scott übersetzt und glänzend verkauft. Prompt wollte der Theaterunternehmer Domenico Barbaia, dessen straff nach dem Erfolgsprinzip geführtes Imperium sich von Neapel bis Wien erstreckte, als Trittbrettfahrer auf den Siegeszug aufspringen. Unter dem Titel „Il Pirata“ wurde 1827 das dritte Bühnen- und erste Meisterwerk des 26jährigen Komponisten aus der sizilianischen Hafenstadt Catania uraufgeführt.

Mit Scotts „Piraten“ hat die Oper allerdings nichts zu tun. Sie geht auf eine Tragödie des irischen Pfarrers Charles Maturin zurück. Goethe hat einige Seiten dieser wilden Vorlage, „Bertram, or The Castle of St. Aldobrand“, übersetzt und mit den Worten eingeleitet: „Übertriebenheiten rasen fieberhaft durch das ganze Stück. Die Heldin liegt jeden Augenblick auf dem Boden. Daß aber die Zustände so toll werden, den ruhigen, verständigen, frommen Prior in Ohnmacht zu werfen, scheint doch ein wenig gar zu stark ...“

Trotz des Etikettenschwindels spielt das Meer die Hauptrolle. Nach einer Ouvertüre, die nichts mit dem Stück zu tun hat, weil Bellini sie seiner Diplomarbeit am Konservatorium in Neapel entnahm, gibt die Bühne den Blick auf einen fürchterlichen Seesturm frei. Fischer laufen am Ufer hin und her, Frauen fallen auf die Knie und beten. Der von Goethe erwähnte Prior kommt aus seiner zerfallenen Klause und feuert sie an. Es hilft aber nichts, der Sturm wird wilder. Die Schiffsattrappe, die sich durch hölzerne Wellen arbeitet, zerschellt an den vorgeschobenen Klippen und versinkt in der Falltür im Bühnenboden. Rettungsboote stechen in See und bergen die Gekenterten. Schließlich beruhigen sich auch die Elemente. Gott hat geholfen.

Was sich erst in der zweiten Szene herausstellt: Die Geretteten sind jene Piraten, die der Herzog des mittelalterlichen Phantasiestaates Caldora gerade in einer Seeschlacht besiegt hat. Im dritten Bild feiert der Sieger seinen Triumph. Inzwischen aber hat seine Frau Imogene die Piraten in ihr Schloß aufgenommen, hofft sie doch, unter ihnen ihren Geliebten Gualtiero zu finden. Der hatte im Krieg um das Erbe der letzten Stauferkaiser auf der Verliererseite gekämpft, wurde verbannt und nahm seither als Freibeuter Rache an Welt und Schicksal. Nach zehn verzweifelten Jahren kommt das ersehnte Treffen zustande, doch Gualtiero erfährt, daß seine Liebste ihm untreu wurde, und will auch ihre Rechtfertigung nicht gelten lassen: Herzog Ernesto hatte ihr das Jawort abgepreßt, indem er ihren Vater gefangennahm und dessen Freiheit gegen ihre Hand bot.

Gualtiero versucht, die Geliebte zur Flucht zu überreden: „Per noi tranquillo un porto / L’immenso mare avrá.“ – „Das unendliche Meer wird auch für uns einen ruhigen Hafen haben.“ Sie aber, die unter der Last der Schuldgefühle zerbricht, antwortet mit einem bitteren Wortspiel: „Taci: rimorsi amari / Ci seguiran per l’onda; / Lido che lor ci asconda / L’immenso mar non ha.“ „Unsere bitteren Gewissensbisse werden uns auch auf dem Wasser verfolgen. Eine Küste, die uns vor ihnen verbirgt, hat auch das unendliche Meer nicht.“ Die wiederkehrende Technik, mit sprachlichen Gleichklängen zu identischen Melodien Entgegengesetztes auszudrücken, ist die dialektische Methode, die Bellinis Werk den Stempel des Genialen aufdrückt. Sie macht das zwischen Anpassung und Widerstand zerrissene Lebensgefühl des romantischen Melodramas aus.

Imogene hatte den heißblütigen Gualtiero schließlich von seinem Fluchtplan abgebracht, da platzt Gatte Ernesto dazwischen. Es kommt zum Zweikampf. Die Sonne geht blutrot über dem Meer auf. Ernesto fällt, Gualtiero liefert sich der Justiz aus. Imogene, die unter dem Ansturm der Schicksalsschläge mehrfach in Ohnmacht fiel und den Verstand zu verlieren drohte, wird vollends wahnsinnig und phantasiert in einer der großen Szenen der Opernliteratur die blutige Hinrichtung des Geliebten auf dem Schafott.

Nun leiden die meisten modernen Interpretationen von Belcanto-Opern darunter, daß die Interpreten der großartigen Musik erbärmliche Texte unterstellen. Das Drama der Figuren wird nicht ernst genommen und die für eben dieses Drama konzipierte Musik um ihre tiefere Bedeutung gebracht – dieses Problem haben auch die drei derzeit im deutschen Handel erhältlichen Gesamtaufnahmen des „Piraten“.

Maria Callas ist dafür berühmt, daß sie das Drama im musikalischen Ausdruck verwirklichte. Trotzdem muß vor dem aufnahmetechnisch jämmerlichen Mitschnitt einer New Yorker Konzertaufführung in der Carnegie Hall gewarnt werden. Zum Aufnahmezeitpunkt, im Januar 1959, durchlief die Callas eine emotionale Krise, die sich auf Stimme und Konzentration nachteilig auswirkte. Sowohl von der Größe der Callas als auch von der Vielschichtigkeit der Imogene vermittelt ein Mitschnitt der Emi – trotz himmlischer Sekunden – ein falsches Bild. Zudem hat Nicola Rescigno das Werk um ein Drittel gekürzt. Die Chöre sind kaum zu hören. Orchestertutti klingen wie Bombenexplosionen. Tenor und Bariton verfügen weder über die Kunst des verzierten Gesangs noch über die erforderlichen Spitzentöne. Der kurzen Aufnahme ist die Wahnsinnsszene in einer ruhigeren Interpretation der Callas vom Juni 1959 in Amsterdams Concertgebouw beigegeben – sowohl diese als auch die Carnegie-Interpretation sind bis heute unübertroffen.

Aufnahmetechnisch befriedigender fallen die beiden Aufnahmen von 1970 und 1994 aus. Die männlichen Protagonisten können jedoch auch hier nicht wirklich überzeugen. Chor und Orchester der Radiotelevisione Italiana in Rom unter Gianandrea Gavazzeni und der Deutschen Oper Berlin unter Marcello Viotti liefern ebenbürtige, im Ganzen stimmige, im Detail sorgfältig gearbeitete Wiedergaben der Partitur. Wenn die Entscheidung zugunsten der Emi-Aufnahme von 1970 ausfällt, dann liegt das an der gesanglich wie gestalterisch phänomenalen Leistung der jungen Montserrat Caballé, die mit 37 Jahren auf der Höhe ihrer stimmlichen Möglichkeiten war und über ein angeborenes Gespür für Belcanto-Technik verfügte. Die gestalterisch in der Pose des „leidenden Weibs“ verharrende Lucia Aliberti, die sich zudem technisch ganz auf ihr in der Tat stupendes Piano beschränkt, bleibt hinter solch komplexem Rollenporträt zurück. Zudem verzichtet das Label Berlin Classics darauf, ihrer Veröffentlichung ein Libretto beizugeben – das ist wenigstens bei Emi-Editionen selbstverständlich. Boris Kehrmann

Vincenzo Bellini: Il Pirata.
– Maria Callas u. a., Chor und Orchester der American Opera Society, Nicola Rescigno, Aufnahmedatum (AD): 27. 1. 1959, dazu: Schlußszene mit Maria Callas und dem Concertgebouw Orkest Amsterdam, Nicola Rescigno, (AD: 2. 7. 1959), Emi 5 66432 2, 2 CDs
– Montserrat Caballé u. a., Chor und Orchester der Radiotelevisione Italiana, Gianandrea Gavazzeni (AD: 1970), Emi 7 64169 2, 2 CDs
– Lucia Aliberti u. a., Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, Marcello Viotti, (AD: 1994), Berlin Classics 0011152BC, 2 CDs


Frau über Bord
Allein auf See und doch zu zweit: Peter Nichols durchsegelt den Atlantik und lässt seine Ehe Revue passieren

Sieben Jahre sind sie ein Paar. Sieben Jahre teilen sie die Leidenschaft für einander und für Segelboote. Dann ist der Vorrat an Gemeinsamkeit genauso wie die Liebe aufgebraucht und eine siebenjährige Seefahrerehe am Ende. Ein Stoff für ein Buch voller tückischer Wehleidigkeit und halbseidener Hobbypsychologie, sollte man meinen. Weit gefehlt.

Denn der Segler Peter Nichols – an Land als Werbetexter und Drehbuchautor tätig – versteht zu schreiben, zu erzählen. Unprätentiös und stilsicher, knapp und bar jedes poetischen Ballasts bringt er uns das Leben des Einhandseglers wider Willen nahe. Der macht sich nach gescheiterter Ehe auf, mit dem einst gemeinsamen Kind – der motorlosen Segelyacht „Toad“ – von England aus über den großen Teich zu segeln. Von Ehrgeiz getrieben, von Erinnerungen gebeutelt, so, wenn er auf der Seekarte feststellen muß: Hier bin ich doch schon einmal gewesen; wenn auch zu zweit. Noch dazu, wo er eines Morgens im unaufgeräumten Teil des Bootes einen zerschlissenen Seesack und in diesem die Tagebücher seiner Exfrau findet.

Eher verblüfft denn schockiert ob der Banalität der Notizen über das sich anbahnende Zerwürfnis kehrt er noch einmal zurück. Zurück zu den Anfängen, der Suche nach einem geeigneten, seetüchtigem Heim, flankiert von Gelegenheitsjobs als Anstreicher oder Kellner oder Charter-Skipper vor tropischer Kulisse. Erzählt von dem zermürbendem Ausharren an Land, von dem unsäglichen Gequatsche all der anderen Aussteigerpaare, die auf große Fahrt gehen wollen. Einmal um die Welt, eines Tages, irgendwann, mindestens.

Garniert wie balanciert wird all das durch ein Höchstmaß an Spannung: Die „Toad“ schägt leck und gibt Nichols’ Einsamkeitstrip eine ganz eigene Note. Hilft anfangs noch die Pumpe, bedeckt alsbald das eindringende Wasser die Bodenbretter. Da heißt es: Beine hoch, die aufkommende Panik bekämpfen und die verbleibenden Seemeilen zählen ...

Und so bündelt sich Nichols Bericht zu einem unterhaltsamen wie packenden Logbuch, das vieles enthält: einen persönlichen Rechenschaftsbericht, ohne zu denunzieren; eine unpathetische Hymne an das Leben zwischen Flaute und heranziehendem Sturm; ein kundiger Führer durch die Erfahrungsliteratur der Einhandsegelei mit all ihren Triumphen und Katastrophen, noch dazu ein Fachbuch über die hohe Kunst der rechten Backhaltens und Fierens – wobei der Landratte ein umfangreiches Glossar beim Erlernen der unvermeidlichen Fachsprache hilft. Und das sich somit als rechte Gabe auf den Nachttisch eines jeden Mannes eignet, der mitunter neidisch von einem ganz anderen Leben träumt. Frank Keil

Peter Nichols: „Der Freisegler“, aus dem Englischen von Dieter Kuhaupt, dtv-Premium, München 1999, 238 Seiten, 28 Mark


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 13. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 13

No. 13April / Mai 1999

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