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Strandgut des Lebens
Der Blues hat einen Bruder in Griechenland: Die Vertriebenen aus der Levante brachten in den zwanziger Jahren den Rembetiko in die Slums der Hafenstädte

Dem Satan bleibt das Maul offen, ihm wird ganz schwindlig beim Temperament der Griechen“, singt Jannis Papajoannous in dem Rembetiko-Lied „Fünf Griechen in der Hölle“. Rembetiko war der vielleicht temperamentvollste unter den temperamentvollen Musikstilen Griechenlands. Lieder wie „Fünf Jahre eingelocht“, „Wenn ich auf dem Schiff sterbe“ oder „Taschendiebe“ stammten aus dem chaotischen Gewusel der übervölkerten Hafenstädte. Flüchtlinge, Kleinkriminelle, Arbeiter, Arbeitslose, Huren und Schmuggler hatten hier in den 20er und 30er Jahren eine Subkultur geschaffen, in der sich das Strandgut aus allen Ecken und Enden der Ägäis sammelte.

1919, nach dem Zusammenbruch des ottomanischen Reichs, waren die vom großhellenischen Fieber erfassten Griechen in der Türkei eingefallen. Drei Jahre später wurden sie von Kemal Atatürk schmachvoll besiegt. Im Austausch gegen 390000 Moslems mussten 1300000 Christen ihre türkische Heimat verlassen.

Die meisten von ihnen strömten nach Piräus, Athen und Thessaloniki, wo Slum-Siedlungen aus dem Boden gestampft wurden.

Die Flüchtlingsmassen, immerhin ein Viertel der griechischen Gesamtbevölkerung, hatten verschiedene Musikstile aus Kleinasien mitgebracht. Besonders großen Anklang fand die sehnsuchtsvolle Kaffeehausmusik aus Smyrna, dem heutigen Izmir. Die oberen Zehntausend mochten Wiener Walzer hören, in den Slums der Großstädte schwärmte man für die schlichten Melodien, die im Völkergemisch der Levante entlang der östlichen Mittelmeerküste entstanden waren.

In den Tavernen und Cafés der Hafen- und Arbeiterviertel trafen sich die Rembetes, die Außenseiter der Gesellschaft, um an den Blechtischen Wasserpfeife zu rauchen, zu trinken und zu musizieren. Sie trugen enge Hosen, kragenlose Hemden, in den Nacken geschobene Hüte, Schals, Messer und Pistolen. Zu den Erkennungszeichen der stilbewussten Großstadtpiraten gehörten außerdem gewachste Schnurrbärte, geschminkte Augenränder und geöltes Haar. „Wir sind die Wracks des Sturms und die Schiffbrüchigen des Lebens“, sang Vasilis Tsitanis über diese Entwurzelten und Gestrandeten des östlichen Mittelmeers.

Der bettelarme, von der Insel Syros stammende Rembetiko-Musiker Markos Vamvakaris beschreibt seinen Einstieg in die Musiker-Szene folgendermaßen: „Dort wurde ich in das harte Arbeiterleben von Piräus eingeführt, dort heiratete ich zum ersten Mal. Dort verfiel ich dem Haschisch. Und dort wurde ich von diesem Instrument verführt – der Bouzouki.“ Markos, der als Schlachter arbeitete, schwor, dass er sich die Hand abhacken würde, wenn er nicht binnen kürzester Zeit Bouzouki spielen lernen würde.

Die ausdrucksstarken Lieder des Virtuosen verbanden in typischer Weise Lakonik und Leidenschaftlichkeit, Fatalismus und Widerstand. In schnoddrigen Versen erzählte Vamvakaris von den Gelegenheitsarbeitern, Prostituierten und Herumtreibern. Mit seiner keuchenden, fast metallischen Stimme schwärmte Markos für die Mädchen am Strand, beklagte er seine Ohnmacht angesichts einer großen Sturmflut oder träumte er von einer amourösen Bootsfahrt nach Marokko.

Zusammen mit dem Pireas Quartett zog Vamvakaris im Laufe der Jahre ein immer größeres Publikum an. Später, unter der Herrschaft des Diktators Metaxas, mussten viele Texte geglättet werden, und auch musikalisch wurden die Rembetika etwas gefälliger. Die populäre Rembetiko-Musik der 50er Jahre, inzwischen kulturelles Allgemeingut der Griechen, hatte schließlich kaum noch Ähnlichkeiten mit Vamvakaris rotzigem Minimalismus.

Alte Aufnahmen können aber auch heute noch etwas von der Atmosphäre in den Kafenions und Haschkneipen von Piräus vermitteln, und wenn man die längst verstorbenen Ur-Rembetes spielen hört, kann man sich vorstellen, wie der Schirokko, der Wind aus der Sahara, Salzwasserspritzer bis an die beschlagenen Scheiben der Kaffeehäuser weht und sich plötzlich ein Mann mit schweren Lidern erhebt, um zwischen den wackligen Stühlen allein zu tanzen, während eine kräftige Frauenstimme verkündet:

„Ach, wenn ich auf dem Schiff sterbe, werft mich ins Meer, dass mich die schwarzen Fische fressen.“ Und vielleicht geht es einem dann wie dem „Tintenkleckser“ aus „Alexis Sorbas“ – plötzlich fühlt man in einem fiebrigen Anfall von verzweifelter Inbrunst, „wie fade und erbärmlich das Leben bisher war“. Gero Günther

Markos Vamvakaris: „Bouzouki Pioneer“, Rounder, 1139 LC 3719

„Fünf Griechen in der Hölle und andere Rembetika Lieder“, Trikont, 0071 LC 4270


Weisser Wal unter Provence-Schafen
Ein Dichter vom Land verbündet sich mit dem Schriftsteller des Meeres: Jean Giono empfindet die Entstehungsgeschichte von Melvilles „Moby Dick“ nach

Man nannte ihn den „Homer der Provence“, was natürlich merkwürdig klingt; denn kaum ein Autor des 20. Jahrhunderts war weniger unterwegs als Jean Giono, und seine sture, demonstrative Daueranwesenheit in seinem Geburtsort Manosque lässt eher an ortsfeste Bauernepen als an die Odyssee denken.

Was voraussetzt, dass an Giono überhaupt gedacht wird. Der langwierige Prozess, ihn gegen seine Liebhaber verteidigen zu müssen, ist noch nicht abgeschlossen. Vor allem mit seinem 1935 auf Deutsch erschienenen Roman „Das Lied der Welt“ wurde der zähe Irrtum begründet, es handele sich bei Giono um einen besseren Hermann Löns, einen begeisterten Sänger des einfachen Lebens, den man für nationale Heimatkunst reklamieren kann.

In Deutschland hat man sich mit der Biografie Jean Gionos, den das Trauma des Ersten Weltkriegs zum radikalen Pazifisten werden ließ, kaum befasst. Er wurde zur Galionsfigur der „Contadour“-Bewegung, die sich für einen Ausgleich mit Deutschland einsetzte – Hauptsache, es gab keinen neuen Krieg. Später hat man ihn deswegen der Kollaboration bezichtigt. Giono teilte weiter Hiebe aus – nach allen Seiten: gegen die kommunistischen Intellektuellen, gegen die Résistance, gegen das Militär und gegen sich selbst. Gefängnisaufenthalte und ein Publikationsverbot von 1944 bis 1947 nahm er wütend in Kauf. In abgeschiedener Besessenheit schrieb er bis zu seinem Tod im Jahre 1970 Romane. Später hagelte es dann Preise und Ehrungen, als habe man endlich begriffen, dass er nicht Kollaborateur war, sondern unfähig zum Engagement außer für seine Arbeit als Schriftsteller.

Nun bietet sich erneut die Gelegenheit, sich des Vor- und Fehlurteils zu entledigen, Giono sei ein enthusiastischer Land-Autor gewesen, der die Lavendelfelder der Basses-Alpes mit der weiten Welt verwechselt habe. Der Münchener Verlag Matthes & Seitz hat mit „Melville zum Gruß“ einen kleinen Roman herausgebracht, der zuletzt 1946 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Einer Flaschenpost gleich liefert der „Gruß“ Nachrichten über den vergessenen Provence-Dichter mit.

Erste Nachricht: Jean Giono übersetzte zwischen 1936 und 1939 zusammen mit Lucien Jacques und Joan Smith Melvilles „Moby Dick“ ins Französische – für einen Manosque-Bewohner ohne maritime Kenntnisse ist das Schwerstarbeit.

Nach der französischen Kriegserklärung an Deutschland vom 3.September 1939 wird der Pazifist Giono verhaftet und ins Fort Saint-Nicolas nach Marseille gebracht. Nach zwei Monaten, die er zeitweilig in Dunkelhaft verbringt, wird das Verfahren eingestellt. Gleich danach schreibt er „Melville zum Gruß“ und sagt selbst, dass er darin die Erfahrungen des Gefängnisaufenthalts verarbeitet hat.

Zweite Nachricht: Im Vorwort bekennt Giono, dass er lange vor der Übersetzung Melville verfallen war und „Moby Dick“ stets mit sich herumtrug. Ein merkwürdiger „Bauerndichter“, der unter die Schafe der Provence einen weißen Wal mischt.

Dritte Nachricht: Giono ist ein „amphibischer Dichter“, der seinen Kollegen Melville hundert Jahre nach „Moby Dick“ als Vertrauten, als einen ebenso Besessenen begrüßt, wie er selbst einer sein mag. Gelegentlich scheint die Nähe zu Melville erdrückend. „Amphibisch“ ist von „gischtigem Laubwerk“, von der „Brandung der großen Eichen“ und der „ungeheuren Mähne der Meeresströmungen“ die Rede.

Im „Gruß“-Roman verbündet sich der „Schriftsteller der Erde“ mit dem des Meeres. Giono verknüpft eigene Lebensfäden mit Melvilles Werk und Leben: Der Amerikaner reist nach London; er ist schon ein berühmter Schriftsteller und bietet „White Jacket“ zur Publikation an, eine Klageschrift gegen die unmenschliche Behandlung der einfachen Seeleute. In einer Postkutsche begegnet er Adelina White, seinem Engel der Imagination, der nach der gemeinsamen Reise auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Nach dem Intermezzo mit Adelina kehrt Melville in die Vereinigten Staaten zurück, um seinen „Moby Dick“ in einem eruptiven Schreibakt zu verfassen. Giono scheint sich in Melvilles Buch hineinzuschreiben, er schließt einen Pakt mit Melvilles Aufruhr gegen die unabänderliche Schöpfung. Die Revolte des Schriftstellers gegen die natürlich beschränkte Welt wird im „Kampf mit dem Engel“ abgebildet, den Giono bei Melville am Werk sieht. Der Engel mutiert schließlich zum weißen Wal, der in Gionos Büchlein zum Wappentier für Melvilles Aufruhr wird.

Im Kampf gegen den Wal, den Kapitän Ahab liebt, hasst und verfolgt, wird das Bündnis zwischen dem Landdichter und dem Schriftsteller des Meeres besiegelt. Kaum je hat sich ein Schriftsteller in der Schreib-Existenz eines anderen so wiedererkannt wie Jean Giono in Herman Melville. Bald nach „Moby Dick“ geht Melville nach New York, wo er noch ein paar Bücher schreibt, um bis zu seinem Tode 1891 zu verstummen. Es quält ihn – bei Giono – die bange Frage, ob Adelina seinen „Moby Dick“ noch gelesen hat. Heiner Boehncke

Jean Giono: „Melville zum Gruß“, Roman, aus dem Französischen von Walter Gerull-Kardas, Matthes & Seitz Verlag, München 1999, 139 Seiten, 29,80 Mark


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 16. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 16

No. 16Oktober / November 1999

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