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Empfehlungen aus Literatur, Musik, Film und Kulturleben

Mendelssohn in der Meeresbrandung
Erst lesen, dann hören: Die Pianistin Adina Mornell schreibt, wie das Naturerlebnis Pazifik ihre Interpretation von Beethoven, Debussy oder Ravel geformt hat. Und dann spielt sie

Musik ist Programm, nicht nur Klang – ein Kunstwerk, das Gedanken und Erfahrungswelt seines Schöpfers widerspiegelt. Weil das Notenblatt allein nicht eindeutig Auskunft über die Absicht des Komponisten gibt, muss man ihr mit Hilfe von historischen Quellen und eigener Intuition auf die Spur kommen. Dann gewinnt auch ein abstrakter Notentext an bildhafter Plastik und atmosphärischer Klarheit.

Für die Hörer erschließen sich neue Dimensionen, wenn sie den Komponisten und seine Welt studieren, wenn sie einen Schlüssel zum Umfeld der Interpreten erhalten.

Die amerikanisch-deutsche Pianistin Adina Mornell – sie wurde in Los Angeles geboren und lebt seit 1984 in Berlin – geht deshalb einen Weg, der nur selten eingeschlagen wird: Sie setzt sich in dem Beiheft ihrer Debüt-CD mit der eigenen Herkunft auseinander.

Der Pazifik, das Meer ihrer Kindheitserinnerungen, ist das untergründige Thema ihrer CD „Deep Water, High Clouds“. Es schließt acht virtuose und virtuos eingespielte längere und kürzere Klavierwerke, darunter Ludwig van Beethovens „Sturm“-Sonate, Claude Debussys „Undine“, Maurice Ravels „Jeux d’eau“, Leosˇ Janácˇeks Klavierzyklus „Im Nebel“ und zwei der bekanntesten Préludes von Sergej Rachmaninow zu einer stimmigen Programmfolge zusammen. Im subjektiven Charakter der Auswahl liegt der besondere Reiz dieser Anthologie.

Mornell gibt jedem Werk einen kurzen, persönlichen Text mit, der im Duktus eher einem Prosagedicht als einer Einführung gleicht. Die Texte deuten aphoristisch an, in welchem Assoziationsraum sich die von der pazifischen Küste stammende Interpretin bewegt. „Virtuose Klaviermusik mit Geschichten“ zu verbinden ist das Programm der CD, und das liest sich, im Falle von Felix Mendelssohn Bartholdys „Albumblatt“ op. 117 zum Beispiel, so: „Vom tiefsten Wasser bis zur höchsten Wolke, vom kleinsten Tropfen bis zum unendlichen ozeanischen Strom: Das Leben ist in den ewigen Kreislauf des Wassers eingeschlossen.“

Den Anfang machen immer eigene Gedanken und Erinnerungen. Dann lässt die Interpretin historisch-biographische Notizen einfließen, die ihr den Horizont des Werkes erhellen: Mendelssohns zahlreiche Seereisen sind es hier; sein in Wort, Bild und Ton intensiv umkreistes Naturerlebnis.

Am Ende gewährt Mornell Einblick in ihre praktische Werkstatt: „Wenn ich die Noten seines ,Albumblattes‘ in Bewegung umsetze, entstehen Wellen und Kreise in der linken Hand. Wie ein Perpetuum mobile bleiben die Töne im Fluss. Die Melodie zieht größere Kreise als ihre plätschernde Begleitung: Längere Wellen überlagern kleinere, bleiben hinter ihnen zurück, eilen ihnen voraus. So treibt die Oberstimme über Steine, schaukelt über Wasserpflanzen, beruhigt sich an der Wasseroberfläche.“

Die sprachliche Formulierung hat auch die musikalische Formulierung der Werke hörbar geschärft. Mendelssohns sonst oft seltsam konturlos gespieltes „Albumblatt“ wird unter Adina Mornells Händen zu einer präzisen Studie der Meeresbrandung. Der Aufwand hat sich also gelohnt.

Auch das anthologische Prinzip bewährt sich: 70 Jahre nach Mendelssohn, im Jahre 1905, gestaltete Maurice Ravel in seiner „Barque sur l’ocean“ dasselbe Thema von einem ganz anderen Standpunkt aus noch einmal neu, und der Hörer hat nun Gelegenheit, beide Stücke in Gegenüberstellung zu vergleichen.

Klar und kraftvoll sind die Linien in Beethovens „Sturm“-Sonate op. 31 Nr. 2 nachgezogen, sanft und geschmeidig umfließt das Element die harmonischen Härten und dynamischen Kontraste in Ravels „Jeux d’eau“, keck und kokett badet Debussys „Undine“ im Meer.

Dem gis-Moll-Prélude op. 32 Nr.12 von Rachmaninow gibt Adina Mornell eine überraschende Deutung: Eine Schneelandschaft mit tausendfarbig schillernden Eiskristallen sei das, schreibt sie im Beiheft. Und so hört man es denn auch, wie mit Händen zu greifen in ihrer plastischen Ausformung.

In Janácˇeks vierteiligem Klavier-Zyklus „Im Nebel“ von 1912 ist es der Strom des Bewusstseins, der dem großen mährischen Komponisten fortwährend Erinnerungen zuspült und vorbeitreiben lässt. Mit ihren Geschichten gibt Adina Mornell dem Hörer und Leser die Möglichkeit, „ihre“ Musik inhaltsbezogen zu hören. Boris Kehrmann

Adina Mornell: „Tiefe Wasser, Hohe Wolken. Virtuose Klaviermusik mit Geschichten“, Werke von Mendelssohn, Beethoven, Ravel, Debussy, Janácˇek, Rachmaninow. Koch-Schwann 3-1835-2


Kopfunter verliebt
Charles Simmons beobachtet zwei Familien im Urlaub am Atlantik. Ein Kammerspiel an der Küste – mit Komplikationen

One Point, ein Ort an der US-amerikanischen Atlantikküste. Dort verbringen der 15-jährige Michael und seine Eltern ihre Sommerferien. Besonders Michael und sein Vater frönen dem Küstenleben, sie gehen schwimmen, segeln und fischen. Das klingt alles friedlich, ist es auf gewisse Weise auch, aber eben nicht nur ...

Da gibt es zunächst zwischen den Figuren einige emotionale Verwicklungen und am Ende gar einen Todesfall. Nicht umsonst beginnt der Roman „Salzwasser“ mit einer dramatischen Szene: Michael und sein Vater wollen zu einer Sandbank schwimmen, verrechnen sich mit den Gezeiten und gelangen nur mit größter Mühe zurück an den Strand. „Mutter hielt meine Hand. Sie hatte eine Stinkwut auf Vater. Die beiden Mieter, die gerade erst eingezogen waren, blieben bei uns. Mrs. Mertz war in Mutters Alter. Ihre Tochter Zina war, selbst kopfunter betrachtet, schön ... Dann berührte sie meine Wange, nur so aus Neugier, wie mir schien. Ich verliebte mich kopfunter in Zina.“

Zina ist zwanzig, Fotografin und eine ebenso attraktive wie resolute Person. Überhaupt sind alle Figuren, gerade einmal ein knappes Dutzend, mindestens charmant und klug. Sie verstehen es, geistreich über das Leben und die Liebe zu sprechen. Da sich zwischen ihnen verschiedene Verhältnisse entwickeln, verwandelt sich das Büchlein alsbald in ein anregendes Kammerspiel. Die prachtvolle Landschaft der Atlantikküste dient dabei als Kulisse.

Charles Simmons, Jahrgang 1924, schuf mit „Salzwasser“ ein kleines Meisterwerk. In Anlehnung an Iwan Turgenjews „Erste Liebe“ erzählt er in 17 Kapiteln ruhig und zielgenau vom Schmerz des Erwachsenwerdens und von den vielen Gesichtern der Liebe.

Das Schönste an dem Büchlein indes sind die allgegenwärtige Poesie und die Dialoge der Figuren. „Ich finde nicht“, erklärt etwa Michaels Mutter den Zuhörenden, „dass die Liebe eine Entschädigung für das Menschsein ist. Sie ist Teil des Menschseins. Manchmal klappt es und manchmal nicht, wie so vieles im Leben. Ganz bestimmt aber ist sie eine Selbsttäuschung. Der Geliebte kann den Erwartungen nicht gerecht werden, und wenn die Liebe über die Enttäuschung hinaus weiterbesteht, wird sie zur Falle.“ – „Warum erfüllt der Geliebte die Erwartungen nicht?“, kommt die Frage aus der Runde. Prompte Antwort: „Weil die Erwartungen hoch sind und der Geliebte seine Schwächen hat.“

„Salzwasser“, der fünfte Roman des ehemaligen Literaturredakteurs Simmons, ist ein sehr schönes, sinnliches und zutiefst humanistisches Buch. Man möchte gar nicht aufhören, daraus zu zitieren. Ein Beispiel noch: Als Mrs. Mertz einmal zu heftig mit Michaels Vater flirtete, entschuldigt sich Zina bei Michael: „Das Problem mit meiner Mutter ist, dass sie sich schon nach einem Drink für Brigitte Bardot hält.“ – „Das Problem mit meinem Vater ist, dass er Brigitte Bardot toll findet.“ Hans-Jörg Noll


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 17. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 17

No. 17Dezember 1999 / Januar 2000

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