Auf Kaperfahrt durch Europas Museen
Das gute Buch zur schlechten Ausstellung über Piraten: Freibeuter, freche Frauen und Filibusterforscher – von Microsoft nicht ohne Hintersinn gesponsert
Fahren sie nicht nach Bremen. Lassen Sie sich nicht von den wilden Kerlen auf den Plakaten verführen, die in die Ausstellung „Piraten. Die Herren der Sieben Meere“ im Überseemuseum locken. Kaufen Sie lieber das Buch zu der Schau, die Stückwerk auf zwei Stockwerken zeigt.
Das im Erdgeschoss präsentierte Sammelsurium von Themen und Belegstücken wirkt inhaltlich zufällig und handwerklich bescheiden: Fotokopien von Störtebeker-Dokumenten, zusammenhanglos aufgereihte Szenen aus Piratenfilmen und lebensgroße Dioramen vom harten Seemannsleben auf Geisterbahnniveau lassen glauben, dass auf der sechsjährigen „musealen Kaperfahrt“, die Ausstellungsleiter Hartmut Roder unternahm, nicht viel authentisches Material zu finden war.
Wirklich sehenswert sind allein die Fundstücke aus der Piratengaleone „Whydah“, dem einzigen zweifelsfrei identifizierten und erforschten Piratenschiff der Welt. Der im April 1717 vor Cape Cod an der amerikanischen Nordostküste gescheiterte ehemalige Sklavensegler wurde 1984 wieder entdeckt. Teile seiner Fracht, darunter Juwelen, Münzen, Kanonen, Navigationsinstrumente, Alltagsgegenstände und die Schiffsglocke, werden in Bremen erstmals in Europa ausgestellt.
Mehr Platz für die Geschichte der Piraterie hat Kurator und Herausgeber Roder zwischen den zwei Buchdeckeln des Begleitbuchs zur Ausstellung gefunden. In den 20 Aufsätzen des mit Illustrationen und einem Quellenverzeichnis für Weiterleser versehenen Bandes werden alle möglichen Aspekte der Freibeuterei beleuchtet – von den legendären Seeräubern der Argonautensage bis zu Piraten unserer Tage, die Frachtschiffe im südchinesischen Meer mit Schnellbooten und Pistolen überfallen.
Das Rückgrat des Buches bilden David Cordinglys und Robert Bohns Aufsätze über die Blütezeit der Piraterie im 17. und 18. Jahrhundert, die von einem romantisch verklärten Bild der Seeräuberei, das viele Piratenfilme vermitteln, wenig übrig lassen. So waren Freibeuter oft nützliche Interessenvertreter von Seefahrernationen im Kampf um die maritime Vorherrschaft: Als im späten 16. Jahrhundert in der Karibik ein Kleinkrieg aller nichtspanischen Europäer gegen die Spanier herrscht, bedienen sich die Engländer der Hilfe von Freibeutern, um die voll beladenen Schiffe der spanischen Eroberer auf der Rückfahrt ins Mutterland abzufangen.
Schon um 1400 gab es in der Nord- und Ostsee nach gleichem Muster anti-dänische Kaperfahrten „freier Piraten“ im Auftrag norddeutscher Fürsten. War der Gegner in die Knie gezwungen, wurden die bis dahin ehrbaren Kaperfahrer für vogelfrei erklärt, wenn sie weiterhin auf Beutezug gingen.
Dass die Herren der Sieben Meere gelegentlich auch Frauen waren, zeigt Heide Menges Aufsatz „Piratenbräute und andere Weibsbilder“. Die Autorin erzählt die vielfach publizierte Lebensgeschichte der Karibikpiratinnen Anne Bonny und Mary Read nach, die 1720 nach ihrer Festsetzung dem Todesurteil nur dadurch entgingen, dass sie vor Gericht angaben, schwanger zu sein. Erfolgreicher war die Karriere von Cheng I Sao, einer kantonesischen Prostituierten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der südchinesischen See zahlreiche untereinander zerstrittene Piratenbanden einte und zu einer straff organisierten Konföderation von mehreren Flotten ausbaute. Der doppelte Exotismus von Weiblichkeit an Bord und dem Fernen Osten regte die Fantasie der Filibusterforscher nachhaltig an. „Selbst seriöse Historiker wie Joseph Gollomp können es sich nicht verkneifen“, bemerkt Menge, „Cheng I Sao, deren äußere Erscheinung in keiner Quelle beschrieben wird, mit exotischen Reizen auszustatten.“
Was der Ausstellung inhaltlich an Breite fehlt, macht Roder im Buch durch eine sehr freie Auffassung des Begriffs „Piraterie“ wett. Ein Drittel des Buchumfangs widmet er Randaspekten wie der Produktpiraterie, Piratentechniken in der Natur und dem Raubkopieren von Software. Auf diese Weise hat sich auch der Softwarehersteller Microsoft, der die Ausstellung sponsert, einen Platz im Buch gekapert: Das Argument der firmennahen Business Software Alliance, durch privat vervielfältigte Software gingen europaweit rund 200000 Arbeitsplätze „verloren“, wurde unkommentiert übernommen. Stefan Gerhard
Hartmut Roder (Hrsg.): „Piraten. Die Herren der Sieben Meere“, Edition Temmen, Bremen 2000, 160 Seiten, 24,90 Mark. Die gleichnamige Ausstellung im Überseemuseum Bremen ist bis zum 15. Januar 2001 täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen
Siehe auch mare No. 7, Schwerpunkt „Piraten und Meuterer“.
Kate oder Krebse?
Für einen Fatalisten wie Tim Junkin ist das Leben wie Ebbe und Flut. Ständig fängt der Mensch wieder von vorne an
Die Chesapeake Bay an der amerikanischen Ostküste besteht aus unzähligen Buchten und Inseln, Sümpfen und Marschen. Land und Wasser kämpfen um die Vorherrschaft in diesem Reich und produzieren dabei eines der fruchtbarsten Ökosysteme der Erde immer wieder neu. Eine Übergangszone, in der die Gezeiten ständig neue Mischungen aus Süß- und Salzwasser herstellen, die zahllosen Pflanzen und Tieren perfekte Lebensumstände bieten. Früher galt die Bucht als die natürliche Eiweißfabrik Amerikas; 1880 entsprach allein die Menge der gefangenen Muscheln, Austern und Krebse dem Nährwert von 160000 Rindern.
Aber diese Zeiten sind vorbei. Mit dem Wachstum der Industriestädte in den Staaten Virginia und Maryland war das vermeintlich unerschöpfliche Fischreservoir schon Ende des 19. Jahrhunderts beinahe ausgeplündert. Besonders bedrohlich für die ganze Region ist die zunehmende Population: Schon längst gehören Teile des Chesapeake County zum Einzugsbereich von Greater Washington und sind ein beliebtes Wohngebiet für Pendler aus der Hauptstadt. Erwartet wird, dass sich bis 2020 weitere drei Millionen Menschen an der Küste niederlassen werden.
Vor diesem Hintergrund schreibt der Schriftsteller Tim Junkin einen Roman „Im Sog der Gezeiten“, der an der Chesapeake Bay spielt, ohne aber den heutigen verhängnisvollen Naturzustand einzuarbeiten oder auch nur zu erwähnen. 1951 geboren, hat Junkin seine Kindheit und Jugend in der Chesapeake Bay verbracht, und es ist wohl der verklärte Blick zurück, der es ihm erlaubt, in der Fiktionalität die einstige Romantik dieses Landstrichs wieder aufleben zu lassen.
Junkins Hauptfigur Clay wuchs ebenfalls an der Chesapeake Bay auf. An der Universität, in der Stadt, fand er ein neues Leben. Aber als sein Vater stirbt, kehrt Clay in seine Heimat zurück. Er nimmt das Erbe seines Vaters an – den alten Fischkutter – und beginnt als Krebsfänger sein neues Leben. Mit dem Auswerfen der Reusen zum Fang begibt er sich sozusagen in das Netz dieser Welt. Die Erinnerungen an das College und die Stadt verblassen mehr und mehr. Das einzige, was ihn noch an sein altes Leben bindet, sind seine Freunde Kate und Matty. Zu Kate verbindet ihn eine unausgesprochene, unverbrüchliche Liebe, aber sie ist mit Matty verlobt.
Clay flieht vor der Gewissheit seiner Zuneigung und sucht auf dem Meer seine Freiheit – vergebens. Denn die Gedanken an seine Liebe und auch die Erinnerung an seinen Vater lassen sich nicht abschütteln. Außerdem erweist sich die See als ebenso widerspenstige Macht: Als ein Hurrikan über die Bay zieht, kann Clay zwar sein Leben und seinen Kutter retten, aber seine Existenz ist zerstört. Nach dem Sturm ist die Bay vollkommen versalzen, die Krebse sind verschwunden.
Clay muss sich neue Fischgründe suchen, ein neues Leben aufbauen. So will es das Gesetz des Gezeitenwechsels: Kein Zustand ist von Dauer. Jede Flut bringt einen neuen Anfang in das Leben an der Chesapeake Bay. Sabine Rothemann
Tim Junkin: „Im Sog der Gezeiten“, Roman, aus dem Englischen von Klaus Modick, Eichborn Verlag, Frankfurt 2000, 345 Seiten, 39,80 Mark
Muscheldiät
Wie Madame Chabre an der See doch noch zu einem Kind kam
Monsieur Chabre hat Angst vor dem Meer und eine lebhafte Abneigung gegen den Verzehr von Muscheln. Doch eben diesen hat ihm sein Arzt empfohlen, und ausgiebige Seebäder obendrein: Denn Monsieur Chabre hegt den Wunsch, ein Kind zu zeugen. Doch das will ihm mit seiner 20 Jahre jüngeren, in jeder Hinsicht reizenden Gemahlin nicht gelingen. Sie ihrerseits brauche keine Muscheln, sondern Zerstreuung, riet der Arzt; so werde der Kinderwunsch vielleicht in Erfüllung gehen.
Monsieur Chabre, ein saturierter und stets korrekt gekleideter Herr, kann einem Leid tun. Nachdem das Ehepaar in einem kleinen Badeort an der französischen Atlantikküste angekommen ist, stopft er sich morgens, mittags und abends mit Muscheln und anderem Seegetier voll und wartet im Übrigen darauf, schwitzend in Gehrock und Filzhut, dass seine entzückende Gattin das Bad beendet, das nicht ihr, sondern ihm verordnet wurde.
Sie aber plaudert beim Schwimmen mit dem blutjungen Hector, einem sehr sanften, sehr wohl gestalteten Einheimischen. Vom Ehebruch, gegen Ende der Badereise vollzogen, bemerkt Monsieur Chabre nichts. Ein Triumph der ärztlichen Kunst, wie er meint: Dank Muscheldiät wird die Ehe, neun Monate später, mit einem Knaben gesegnet.
Eine kleine, fein gezeichnete Innenansicht aus dem Leben der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts liefert Émile Zola (1840 – 1902) mit seiner Erzählung „Die Muscheln von Monsieur Chabre“. Bekannt als Autor des literarischen Naturalismus, zeigt Zola hier eine anmutig-ironische Seite: Alles wirkt wie von leichter Hand ausgeführt, mit einem Lächeln über den Lauf der Dinge. Gregor Gumpert
Émile Zola: „Die Muscheln von Monsieur Chabre“, aus dem Französischen von Trude Fein, Manesse Verlag, Zürich 2000, 96 Seiten, 19,80 Mark
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