mare-Salon

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Untergang mit Pauken und Trompeten
Das „Floß der Medusa“ als Oper – wunderbar. Aber als Allegorie auf den Klassenkampf? Die Bildungsbürger waren entsetzt

Hamburg, 9. Dezember 1968. Verwirrung in der Mehrzweckhalle „Planten un Blomen“. Eine rote Fahne ist am Dirigentenpult aufgetaucht. Keiner weiß, wer sie dort angebracht hat. Ausgerechnet am Premierenabend. Hans Werner Henze weigert sich, das Tuch zu entfernen. Als ob der Mann nicht schon umstritten genug wäre. Der Rias-Kammerchor skandiert: „Die Fahne weg! Die Fahne weg!“ Fischer-Dieskau schimpft, Edda Moser umarmt Solidarität bekundend den Komponisten, Polizei stürmt die Halle, und es prügeln, wie Henze sich später erinnert, „verschiedene sozialistische Denkschülergruppen aufeinander ein“.

Nach dem Debakel bricht der Zorn der bürgerlichen Presse über Henze herein. Der damals 42-jährige Komponist wird beschuldigt, die Aufführung seines eigenen Werks verhindert zu haben; er sei „für das Deutsche Musikleben erst mal erledigt“. Sein Werk interessierte niemanden mehr. „Das Floß der Medusa“ war sang- und klanglos abgesoffen.

Dass sich der Skandal an einer roten Fahne entzündet, ist eine Ironie der Kulturgeschichte. Ein rotes Stück Stoff steht nämlich auch im Zentrum von Théodore Géricaults Gemälde „Le Radeau de la Méduse“ (siehe mare No. 16), das Henze inspirierte. Bei Géricault ist der Fetzen ein Signal der Hoffnung – ein Signal, welches die Schiffbrüchigen einem vorbeisegelnden Schiff entgegenschwenken.

„Das Floß der Medusa“, so der Komponist im besten APO-Jargon, „berichtet vom dramatischen Todes- und Überlebenskampf von Menschen aus der Dritten Welt, die auf einem Floß an der westafrikanischen Küste von Vertretern einer herz- und gedankenlosen Herrschaftskaste ihrem Schicksal überlassen worden waren.“ Hans Werner Henze und sein Librettist verstehen ihr Oratorium als eine musikalische Solidaritätsbekundung mit den revolutionären Bewegungen in den Entwicklungsländern. Aus aktuellem Anlass be- schließen sie, das Werk zu einer „Trauerallegorie“ für den 1967 erschossenen Che Guevara zu erklären. Henze will die Stimmen der Geknechteten hörbar machen, ihr Klagen und Wimmern, ihr Schreien und Murmeln.

„Das Floß der Medusa“ verbindet klassische Formen und revolutionäre Formeln, Requiem und Deklamation, Dante und Che, Echospiele aus der Monteverdi-Zeit, Beatorgeln und E-Gitarren. Es ist das Werk eines Komponisten, der trotz seiner Sympathien für die Revolution „eher angetan als abgestoßen von den Errungenschaften der bürgerlichen Kunst war, ganz wie man von den Annehmlichkeiten des westlichen Automobilbaus oder der modernen Morphologie angetan sein kann“.

Hatte Géricault die Gestalten auf seinem Floß in einem Stil gemalt, der bis dato christlichen Märtyrern oder antiken Helden vorbehalten war, so möchte Henze die Schiffbrüchigen „so edel in ihrem Leiden wie keinen der größten Heroen oder Gottheiten der Weltgeschichte“ darstellen.

Dank seines dokumentarischen Charakters hört sich das Oratorium streckenweise wie ein spannendes Hörspiel an. Als das Floß nach 73 Minuten gerettet wird, sind die meisten der 154 Schiffbrüchigen, die von den Offizieren auf den Rettungsbooten abgewiesen wurden, gestorben. „Die Überlebenden aber“, heißt es im Finale, „kehrten in die Welt zurück: belehrt von Wirklichkeit, fiebernd, sie umzustürzen.“ Die letzten Sätze seines Oratoriums unterlegt Henze mit dem Rhythmus eines Sprechgesangs, der 1968 in aller Ohren war: „Ho-, Ho-, Ho-Tschi-minh!“

Die Aufnahme des Oratoriums stammt übrigens von den Generalproben der verhinderten Uraufführung: „Die Energien sind da nicht voll entfaltet, man dirigiert, singt und spielt sachlich, gibt kräftemäßig nur die Hälfte, kalkulierend, sich auf den Abend vorbereitend“, kritisiert Henze den Mitschnitt. 32 Jahre später wirkt diese Sachlichkeit wie gewolltes Understatement. Die rote Fahne muss sich inzwischen eben jeder selbst dazudenken. Gero Günther

Hans Werner Henze: „Das Floß der Medusa“, Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, Chor des Norddeutschen Rundfunks, Rias-Kammerchor, Mitglieder des Hamburger Knabenchors St. Nikolai und das NDR-Sinfonieorchester, The Henze Collection, Deutsche Grammophon 449 871-2


Invasion der Toten
Eine schaurige Legende von den Kanarischen Inseln wird wahr

Eigentlich sind die Toten ganz umgängliche Leute. Ein bisschen sonderbar und unbedarft, können nicht „Ich“, nur „Wir“ sagen und interessieren sich brennend für geometrische Muster aller Art: für Blütengeäder, Rinnsale im Sand oder Fußspuren im Straßenstaub. Sie wollen keinem Menschen etwas Böses und fallen den wenigsten auf. Denn die Toten sind unsichtbar, für fast alle Lebenden.

So unsichtbar wie San Borondon, ihr Zuhause. San Borondon ist die achte, unentdeckte Insel der Kanaren – „Die letzte Insel“ in Christian Mährs gleichnamigem Roman. Auf den Landkarten besteht der kanarische Archipel aus sieben größeren Inseln, doch seit dem Altertum haben Seeleute und manche Kanarier selbst immer wieder, mal hier, mal dort, eine achte gesehen. Unvermutet tauchte sie auf, für ein paar Stunden nur oder Tage, ja wochenlang, vielleicht ein Stück des untergegangenen Atlantis, das noch einmal vom Meeresgrund ans Tageslicht stieg. Klarer Fall, dass auf dem Zauberland das irdische Paradies vermutet wurde. Wer aber hingelangen wollte, scheiterte: San Borondon, ein Traumbild, eine Luftspiegelung, löste sich in Nichts auf.

Zu denen, die San Borondon sehen können, gehört der Ich-Erzähler des Romans, ein Verfasser heiterer Unterhaltungsliteratur, der auf Gomera Ferien machen und an einem neuen Buch arbeiten will. In einem „Pauschaltouristenghetto“, auch das gibt’s auf der populären Aussteigerinsel, bezieht er ein Apartment mit Meerblick.

Was er da draußen im Atlantik, westlich der bekannten Inseln, wahrnimmt, zieht ihn in seinen Bann: „Schwere Masse, schwarz, mit silbrigem Lichtsaum.“ Barbara, seine Frau, bemerkt gar nichts; ein paar andere Touristen aber erkennen die Insel gleichfalls und können sich nicht lösen vom Geheimnisvollen, das sie umgibt. Und damit nimmt das Unglück seinen Lauf.

Der Geschichte dieses Unglücks gibt Christian Mähr ein atemberaubendes Tempo: Expedition nach San Borondon. Einer kehrt nicht zurück. Invasion der freundlichen Toten auf Gomera. Leider bringen die Toten ohne jede böse Absicht viele Lebende um – die Inselbehörden interpretieren das Massensterben als mysteriöse Seuche, die um jeden Preis gestoppt werden muss. Die wenigen Sehenden aber fragen sich: Wie wird man die Toten bloß wieder los, wie schafft man sie zurück in ihr Revier?

Eine fantastische, verrückte Geschichte, deren Clou gerade ihre Verrücktheit ist: In Mährs Roman läuft die handfeste Wirklichkeit aus dem Ruder, sie wird durchlässig für eine andere, für ihre Schattenseite, von der sich kein vernünftiger Mensch je etwas träumen lässt. Virtuos spielt der Autor mit kanarischen Legenden, die sich seit alter Zeit um die sagenhafte Insel ranken, und verknüpft sie mit Bildern aus der griechischen Mythologie. Eine Art Charon, Fährmann der Seelen im Hades, steuert am Ende des Romans ein großes Totenschiff gen Westen.

Das alles wird in lapidarem Ton erzählt, ironisch und voll aufgeklärter Skepsis gegenüber dem, was doch nicht wahr sein kann. Mit jeder Seite steigt die Spannung, wächst die Erwartung, dass gleich noch mehr Unglaubliches geschieht. So ist es schade, dass auch dieses Buch ein Ende haben muss. San Borondon und die Toten aber werden, das steht nach der Lektüre felsenfest, schon weiterleben, irgendwie und irgendwo. Gregor Gumpert

Christian Mähr: „Die letzte Insel“, Roman, DuMont Buchverlag, Köln 2001, 215 Seiten, 39,80 Mark


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 26. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 26

No. 26Juni / Juli 2001

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