Natur, möbliert
Eine fotografische Reise zu den vielfältigen Rändern Europas
Etwas stimmt nicht auf diesen Bildern. Die Fotografin Trude Lukacsek hat europäische Strände fotografiert, jene Orte zwischen Land und Meer, an denen Menschen für Menschen die Natur möbliert haben, um sie in der Freizeit lärmend und ausgelassen zu bevölkern. Doch ausnahmslos sind diese Bilder menschenleer.
Beim Betrachten der verlassen daliegenden Badehäuschen, Balustraden und steinernen Treppen ins Meer wird man ganz melancholisch und ist dann froh, dass wenigstens ein Mensch doch in dem Buch auftaucht. Karl-Markus Gauß, kenntnisreicher und kritischer Redner über Europa und kluger Essayist, hat den Fotos heiter-wehmütige Gedankenskizzen zur Seite gestellt, in denen er die Bedeutungsvielfalt des Strands als Kulturraum abschreitet. Er findet, ganz aufmerksamer Flaneur, das Besondere im Gewohnten. So ist zum Beispiel im Süden Europas das Meer die Bühne, die man vom Strand betrachtet, während im Norden man, in Strandkörben sitzend, das Meer im Rücken hat, des Windes wegen. Und immer kehrt Gauß zurück zu den eindringlichen, intensiv farbigen Fotografien Lukacseks, die extrem strukturiert, aber nie gestellt sind.
Wenn man dann noch erfährt, dass Trude Lukacsek eine Besessene ist, die bereits seit 20 Jahren Europas Strände fotografiert, fügt sich das in den Gesamteindruck, hier eine reife Leistung vor sich zu haben. Und zu allem Überfluss kommt das Buch in einem unprätentiösen, handlichen Format daher und in einer Papierqualität, dass man es gar nicht mehr aus der Hand geben möchte. Judith Reker
Trude Lukacsek, Karl-Markus Gauß: „Der Strand“, Christian Brandstätter Verlag, Wien, 2002, 144 Seiten mit circa 200 Abbildungen, 36 Euro
Zuletzt ans Meer
Die Logik einer Verzweifelten führt drei Leben an den Abgrund
Der Rahmen für einen fröhlichen Ausflug ans Meer scheint gegeben: zwei kleine Jungen und ihre Mutter, eine Strandpromenade, ein Zimmer im Hotel, ein Rummelplatz. Doch statt unbeschwerter Sommererlebnisse am Strand erwarten den neunjährigen Stan und seinen jüngeren Bruder Kevin Tage der Verwirrung und Verlorenheit. Die Ferienzeit ist nämlich bereits vorüber, es herrscht herbstliches Regenwetter, und das Meer zeigt sich grau und stürmisch. In dem schäbigen Hotelzimmer ist es eiskalt, und die Mutter hat kaum genug Geld, um ihren Söhnen kindliche Freuden wie eine Fahrt mit dem Autoscooter zu ermöglichen.
In der tristen, abweisenden Umwelt spiegelt sich der innere Zustand der Mutter wider. Die Hauptfigur im Debütroman „Meeresrand“ der französischen Theaterautorin Véronique Olmi will mit der Reise an die Küste den Jungen ein Geschenk machen, da sie noch nie das Meer gesehen haben. Doch sie ist nicht einmal in der Lage, ihren Kindern Alltag zu bieten. Sie ist eine dem Leben ausgelieferte, psychisch kranke Frau, die bereits mit den banalsten Dingen wie dem Aufstehen zu kämpfen hat – Kämpfe, die sie häufig verliert. Andere Menschen wirken auf sie bedrohlich, ja feindselig, und selbst ihr älterer Sohn ist ihr mit seiner zunehmenden Einsicht nicht mehr ganz geheuer.
Wie es zu dem verzweifelten Zustand der Protagonistin gekommen ist, kann der Leser bestenfalls erahnen. Die Gestalt der namenlosen Frau, die in ihrer psychischen Zerstörtheit an Theaterfiguren von Sarah Kane erinnert, bleibt in ihrer Biografie nebulös und ohne Kontur. Ihr Blick auf die Welt dagegen ist von schonungsloser Klarheit, und für kurze, erschreckende Momente glaubt man manchmal ihr Handeln zu verstehen.
Véronique Olmi taucht beinah bedenklich tief in die Psyche ihrer Hauptfigur ein. Mit sezierender Schärfe entwirft sie das Bild einer paranoid-depressiven Frau in all ihrer Ausweglosigkeit, aber auch mit einer fühllosen Härte, die ihr zum Selbstschutz dient. Sie flüchtet sich am liebsten in den Schlaf, um wenigstens für eine Weile ihrer quälenden Angst und dem Gefühl der Unzulänglichkeit zu entkommen. Auch im Hotel fühlt sie sich nur an einem Ort sicher. „So hätte ich mein ganzes restliches Leben verbringen wollen: im Bett mit meinen Kindern, wir hätten in die Welt gesehen wie in eine Glotze: aus sicherem Abstand, ohne uns schmutzig zu machen, die Fernbedienung in der Hand, und bei der ersten Schweinerei hätten wir sie abgedreht, die Welt.“
Die Einsamkeit und Verunsicherung, in die sie die ihr hoffnungslos ausgelieferten Kinder mit ihrer Flucht in die Bewusstlosigkeit stürzt, kann sie nicht begreifen. Sie glaubt vielmehr, ihre Söhne vor der Kälte der Welt erretten zu können. Die Lösung, die sie für die Kinder gefunden zu haben glaubt, entspringt der Logik der Verzweiflung.
„Meeresrand“ ist nicht nur das Porträt einer unrettbar kranken Frau, sondern auch eine tiefe Analyse der komplexen Beziehung zwischen Eltern und Kindern – eine Thematik, der sich die Autorin auch in ihrem zweiten, im Herbst in Frankreich erschienenen Roman widmet.
Véronique Olmi ist mit klarer, harter, schnörkelloser Sprache ein subtiles Psychogramm gelungen, das den Leser bis zu jenem Ende, wie es von Anfang an feststeht, nicht mehr loslässt. Mindestens. Mechthild Barth
Véronique Olmi: „Meeresrand“, Aus dem Französischen von Renate Hentwig, Antje Kunstmann Verlag, München, 2002, 120 Seiten, 14,90 Euro
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