Nirwana ist ein großes Büschel Schilf
Peter Schanz hat auf einem Containerschiff die Welt umrundet, 87 Mal das Wasser fotografiert und radikal genial Logbuch geführt
Will der genervte Alteuropäer meditieren, muss er sich reinigen. Das heißt: Yoga statt Vor-Wut-ins-Lenkrad-Beißen und Vegan statt Schnitzel. Reinigung meint auch: die bewährten Mittel zur Distanzierung von den lieben Mitmenschen und von sich selbst ausbremsen: Ironie und Spott.
Peter Schanz provoziert diese Ätzmittel nur mit dem Titel seines Foto- und Textbandes – damit wir das Fiese heraus- und hinter uns lassen können, um im Sog des Buches zu verschwinden: 87 Tage blau? Rekordverdächtiges Leistungstrinken? 87 Tage blau? So viel Urlaub möchte man auch mal haben. 87 Fotos nur von Wasser, nicht mal Himmel darüber, kein Schiff, kein Fisch, kein Vogel, geschweige denn eine Robbe oder eine Dame mit oder ohne geblümte Badekappe; manchmal ein wenig Müll. Und wer sagt mir, dass das Wasser da überhaupt der Pazifik ist? Und nicht die Ostsee? Oder der Dümmer?
Wer begreift, dass man so nicht weiter kommt, ist einen Schritt weiter: Man weiß nicht, welches Wasser das ist. Eben: Nicht-Wissen in der Wissensgesellschaft. Man kann hier glauben üben. Immerhin sieht man etwas, nämlich Wasser, großes Wasser, unendliches Wasser in allen Tönen, Dichten und Tiefen. Gottfried Benn, der Blau über alles liebte und dazu riet, wir sollten gelegentlich auf Wasser sehen, der hätte sich für das radikale Buch begeistert; es funktioniert auch in der U-Bahn der großen bösen Stadt.
Schanz hat von Rotterdam aus mit einem Containerschiff Richtung Westen unseren Planeten umrundet und von allen Meeren, die er sah, Aufnahmen gemacht. 87 Mal. Und diese betörenden quadratischen Fotos mit kurzen Texten unterlegt.
Die Texte spannen sich formal von Alltagsbeobachtungen auf See bis zu Haiku-artigen Gebilden. Es gibt Sprachübungen, um von den Klischees der Meeresbeschreibung loszukommen, Additionen, die Unvergleichliches in neue Ordnungen rücken, kuriose Enzyklopädien, Weisheits- lehren, Politisches und Spöttisches, virilen Gesang auf die Maschinen und die letzte freie Männerwelt. Es gibt das Bekenntnis zur Sehnsucht nach zu Hause, das zugleich eine kleine Dialektik des Fernwehs bietet, einmontierte Telegramme, derbe Zoten und Notizen über Dreck ablassende Kreuzfahrtschiffe und sonstige Scheußlichkeiten. Kunterbunt geht alles durcheinander: polychromer Text kontrastiv zur blauen Reinheit der Bilder, Aufschwünge und Einsamkeiten, Reflexionen, Spiele mit dem Leser: „Du musst einen Scheißtag behaupten, das erwarten sie alle.“
Am 53. Tag gibt es, der Kapitän ist Deutscher, Eintopf mitten im Southern Ocean und, Tag 59, endlich: „Ich habe Nirwana gesehen. Es liegt etwa drei Seemeilen vor der Hafenausfahrt von Jakarta, ein bisschen westlich vom Fahrwasser, genau auf 6°02' S und 106°51' O. Ehrlich gesagt, ist dieses Nirwana eher ein großes Büschel Schilf denn eine Insel. Aber in unserer Seekarte steht es ganz deutlich.“
Das Buch realisiert eine kompromisslose Ästhetik, monochromer geht es kaum, und doch ist es farbiger nicht denkbar. Eckart Goebel
Peter Schanz: „87 Tage Blau“, Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München und Wien, 2003, 64 Seiten, 14,90 Euro
Ballett Blau
Die BBC filmt, und die Natur spielt wie im Tiefenrausch
Fünf Jahre lang haben sie das Meer durchpflügt wie Kutter mit ihren Schleppnetzen – auf der Suche nach be-sonderen Bildern. Gleich 20 Kamerateams waren beteiligt, nicht immer gingen ihnen dicke Fische ins Netz. „Nach 200 Tagen hatte ich gerade einmal fünf Minuten Material“, erzählt Regisseur Andy Byatt. Aber am Ende ist das Abenteuer für ihn und seinen Kollegen Alastair Fothergill doch gut ausgegangen.
Die Filets aus 7000 Stunden Filmmaterial bringen die beiden nun in einem 90-minütigen Dokumentarfilm auf die Kinoleinwand. Ein wahrer Bilderrausch: Da wirft ein Killerwal im tödlichen Spiel ein Seelöwenjunges meterhoch in die Luft. Delfine jagen Sardinen, indem sie ihre Op-fer mit einem Netz von Luftblasen umzingeln. Korallenkolonien bekriegen sich, eine frisst die andere bei lebendigem Leib. „Wir haben einen schönen Film gemacht, aber es ist kein zarter Film“, meint Fothergill. Das stimmt. Und ob der Opulenz, ob der Gewalt und der Wucht der Bilder ist der Film ein physisches Erlebnis für den Zuschauer.
Gleichwohl bleiben eher die ruhigen Passagen im Gedächtnis: das atemberaubend schöne Quallenballett, wie von John Neumeier choreographiert, oder die amüsanteste Szene des Films, als eine Armee blauer Soldatenkrabben den Strand er-obert und mit nahezu militärischer Präzision die Küste entlang marschiert. Hier ist es nicht allein die Natur, die das Schauspiel liefert, sondern die Szene ist auch genial geschnitten.
Grundlage für den Film war die achtteilige Fernsehserie „Unser blauer Planet“, die auch schon von der ARD ausgestrahlt wurde. Trotzdem hat die 90-Minuten-Version ihre Berechtigung, denn solche Bilder gehören auch ins Kino. Nun ließ es sich auch trefflich jagen für Fothergill, Byatt und ihr Team. Denn BBC und Discovery Channel investierten 17 Millionen Dollar in das Fernseh- und Kinoprojekt.
So war es möglich, mit Mini-U-Booten auf 5000 Meter Tiefe herabzutauchen, in die ewige Dunkelheit. Der Zuschauer er-lebt eine völlig neue Welt, die unwirklich scheint wie aus einem Science-Fiction-Streifen. Übrigens haben die Filmemacher während der Dreharbeiten zwei neue Spezies entdeckt: eine riesige Quallenart und einen bisher unbekannten Tintenfisch. Zufall, natürlich. Dass sie es aber geschafft haben, den Komponisten George Fenton, der fünf Mal für den „Oscar“ nominiert wurde, für ihren Film zu gewinnen, ist ihr Verdienst. Und auch, dass seine Kompositionen von den Berliner Philharmonikern eingespielt wurden. Übrigens haben diese zum ersten Mal einen Soundtrack aufgenommen. So ist „Deep Blue“ nicht nur sehenswert, sondern auch ein Genuss für die Ohren. Der Kommentar ist sparsam, manchmal vielleicht etwas zu pathetisch. Aber wer mag den Regisseuren das verdenken, wenn es ihnen gelungen ist, solche Bilder einzufangen?
„Deep Blue“ ist ein Ereignis, sehr zu empfehlen, und am Ende ist man beinahe beruhigt, dass zumindest ein Coup nicht gelungen ist: Als einer Gruppe Beluga-Wale der Zugang zum offenen Meer durch das frisch gefrorene Eis abgeschnitten ist, versucht ein Eisbär, die Notlage auszunutzen. Es ist eine faszinierende Sequenz, doch am Ende ist sein Jagdversuch nicht erfolgreich. Text aus dem Off: „Dieses Mal hat er es nicht geschafft.“ Einen einzigen Höhepunkt hat die Natur den Machern von „Deep Blue“ nicht geschenkt. Aber dafür eine Vielzahl anderer. Jens Fintelmann, mareTV
„Deep Blue“, BBC-Dokumentarfilm, von Andy Byatt und Alastair Fothergill, 90 Minuten
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