Sansibar ist Sansibar ist Sansibar
Ihr Name ist Chiffre für Sehnsucht nach Abenteuern und exotischen Welten. Diese Insel im Indischen Ozean musste die Literaten locken
„Er zog“, heisst es in Alfred An- derschs berühmtem Roman „Sansibar oder der letzte Grund“, „eine seiner Landkarten hervor und breitete sie aus, er hatte den Indischen Ozean erwischt und las die Namen Bengalen und Chittagong und Kap Comorin und Sansibar, und er dachte, wozu bin ich auf der Welt, wenn ich nicht Sansibar zu sehen bekomme. Herrgott nochmal, dachte er, Sansibar.“
Knapp zwei Jahrzehnte nach Erscheinen des Buches warfen ideologische 68er-Puristen dem Ex-Kommunisten Andersch mangelndes Bewusstsein vor: Als bräuchte es, um aus Hitlerdeutschland zu fliehen – schließlich gehe es im Roman vor allem darum –, ausgerechnet ein imaginäres Sansibar als „letzten Grund“! Warum jedoch nicht? Die Letztbegründung für Freiheit lautete schon immer Schönheit oder Liebe. Jedenfalls ist solcherart Sehnsuchtsblick auf die Palmeninsel mit ihrer afroarabischen Architektur sympathischer als die tumbe Standortoptik, die Ende des 19. Jahrhunderts europäische Wissenschaftler und Händler nach Sansibar führte, der ersten Station für Entdeckungsreisen ins Herz des so genannten dunklen Kontinents.
Der Kulturanthropologe Johannes Fabian beschreibt in seinem Buch „Im Tropenfieber“, wie unter südlicher Sonne Forschergeist und Forscherwahn, Krämer- attitüde und Abenteuerlust ein explosives Gemisch eingingen, das manchen der Beteiligten sogar das Leben oder den Verstand kosten sollte.
Delirien ideologischer Art, wie sie nur das 20. Jahrhundert hervorbringen konnte, machten hingegen Abdulrazak Gurnah das Leben schwer. Auf Sansibar geboren, wurde er in den sechziger Jahren vom damals herrschenden einheitssozialistischen Regime zum Studium nach Dresden geschickt, wo er allerdings bald darauf die Chance ergriff, in den Westen zu fliehen. Inzwischen lehrt er in Großbritannien an der University of Kent und hat mehrere Romane veröffentlicht, darunter kürzlich das autobiografische, diktaturkritische „By the Sea“. „In Dresden-Neustadt vermisste ich meine Insel“, schreibt Abdulrazak Gurnah, „aber sosehr ich Ostdeutschland verlassen wollte, so wenig Hoffnung hatte ich, Sansibar je wiederzusehen.“
Sein studentischer Held Latif Mahmud sehnt sich nach der gleichen Freiheit wie einst Anderschs Figuren. Nur gibt es einen Unterschied, denn eine Rückkehr auf die repressiv regierte Insel ist für ihn undenkbar. Die gleichaltrigen Afrikaner, die er dann im grauen Dresden-Neustadt trifft, hassen ihre verbitterten DDR-Lehrer, die sich selbst wiederum von den Blue Jeans und der disziplinlosen Fröhlichkeit ihrer Schüler provoziert sehen. Irgendwann trifft Latif im Studentenwohnheim auf den schweigsamen Ali aus Guinea. Dessen Vater, nach der Unabhängigkeit des Landes hoffnungsvoll aus Frankreich zurückgekehrt, ist mittlerweile vom Regime Ahmed Sékou Tourés verhaftet worden, und auch Alis älterer Bruder gilt als verschwunden – Moscow ’37 revisited.
Andere Zeiten, andere Gefahren. Bis heute besteht für Sansibar eine Reisewarnung des amerikanischen Außenministeriums. Signalstufe rot, gilt doch seit dem Bombenattentat auf die US-Botschaft in Daressalam im August 1998 die Insel als Basis und Rückzugsgebiet für Al-Qaida-Zellen. Gerüchte oder Fakten?
Der englische Schriftsteller Giles Foden, vor einigen Jahren mit einem Roman über Uganda unter Idi Amin bekannt geworden, hat die Vermutungen – angereichert mit mehr oder minder zugänglichen Informationen – zu einer spannenden Fiktion geformt; Titel des Romans, natürlich: „Sansibar“. „Schon der Name, geruhsam und verschwörerisch, war eine Illusion. Er sprach von glühendem Verlangen, von der Sehnsucht nach dem Paradies, die unseren Sündenfall verrät.“
Die Sünde trägt den Namen von islamistischen Ideologen und westlichen Politikern, von konzeptionsloser Machtpolitik und blutigem Fanatismus. Zu Beginn der Handlung sitzt der junge Chaled al-Chidr, der später zum „Gotteskrieger“ in Afghanistan werden wird, am schneeweißen Strand von Prison Island, einem winzigen, der Hauptinsel vorgelagerten Eiland. Zusammen mit gleichaltrigen Freunden betrachtet er eine Schildkröte, die die Eier ihrer Jungen im Sand versteckt. „Dann geschah etwas Seltsames. Die Schildkröte drehte sich über ihrem Gelege im Kreis, wobei sie sich jedes Mal mit einer anderen Flosse abstieß. Drei Mal drehte sie sich um die eigene Achse. Als sie schließlich fortkroch, war der Sand fast ganz eben. Zumindest auf den ersten Blick hätte kaum ein Nesträuber sagen können, wo sie ihren Schatz abgelegt hatte.“
Vielleicht ist ja bei allen Unterschieden genau dies das Unwandelbare: Sansibar als mysteriöse Projektionsfläche, die freilich mit der Realität des Tropenarchipels vor der Küste Tansanias nur bedingt zu tun hat.
Trotz Al-Qaida, es bleibt dabei: Sansibar ist vor allem „Sansibar“, eine Chiffre für Sehnsucht nach Abenteuern und exotischen Welten, frei von genauerer historischer oder geografischer Verortung. Nicht nur Alfred Anderschs Romanheld genügten schließlich bereits die acht zu einer Zauberformel zusammengesetzten Buchstaben. Marko Martin
Alfred Andersch: „Sansibar oder der letzte Grund“, Diogenes, Zürich, 2000, 158 Seiten, 6,90 Euro
Johannes Fabian: „Im Tropenfieber“, C. H. Beck, München, 2002, 416 Seiten, 19,90 Euro
Abdulrazak Gurnah: „By the Sea“, Bloomsbury Publishing, London, 2002, 256 Seiten, 6,99 Pfund Sterling
Hauptstadtmeer
Der cinemaritime Beitrag zur Berlinale war klein, aber fein
„Beautiful Country“
Um 1990 war es, als Tausende von Vietnamesen ihr Land über das Meer verließen und sich als „Boat People“ in unser Gedächtnis eingruben. Einer dieser vielen ist auch Binh, dessen Leben besonders unselig und erniedrigt verläuft, weil er als Sohn eines Amerikaners in seinem vietnamesischen Dorf sozial geächtet ist.
Binh macht sich erst auf die Suche nach seiner Mutter und flüchtet – nach dem gescheiterten Versuch, in der Großstadt Fuß zu fassen – mit seinem kleinen Bruder auf ein Schiff, das ihn nach Amerika, dem „Beautiful Country“, bringen soll. Die Bilder von der Überfahrt, die zum Drama wird, sind eine filmische Glanzleistung. Bedrückender und trostloser als auf diesem rostigen Kahn, der von einem adrett gekleideten amerikanischen Kapitän illegalerweise über die Weltmeere gesteuert wird, kann man sich Seefahrt kaum vorstellen. Binh erreicht das gelobte Land, das Zusammentreffen mit seinem Vater jedoch gestaltet sich anders als erwartet. Wenn dieser (Nick Nolte) von dem „Beautiful Country“ spricht, meint er nämlich nicht Amerika, sondern Vietnam. Die Träume eines jeden liegen an einem anderen Ort.
„Flammend’ Herz“
Wen interessiert die bloße Haut von alten Menschen, die nackten Körper von 90-jährigen Männern? Das war die einhellige Kritik, die den Regisseuren von „Flammend’ Herz“ bei der Produzentensuche von allen Seiten entgegenschlug. Aber die Hartnäckigkeit von Andrea Schuler und Oliver Ruts hat sich gelohnt; sie haben einen wunderbaren Film gedreht über drei Tätowierer, deren ganze Existenz auf gestochenen Bildern basiert. Sie alle haben als Jugendliche bei Seeleuten Tätowierungen bewundert, und bald verwandelte sich Liebäugeln in Obsession.
Die Biografie des aus alteingesessener Kieler Familie stammenden Karlmann Richter zeigt, wie subversiv Ganzkörpertattoos waren – und noch sind. Wenn der alte Herr seine Seidenschärpe umbindet und aus den Anzugärmeln knochige, bis zu den Fingernägeln tätowierte Hände hervorlugen, ahnt man, was für einen Kraftakt der Mann geleistet haben muss, um seinem Elternhaus Paroli zu bieten und ein schwules Leben im Hamburger Hafenviertel zu führen. Von jeglicher Konvention befreit und geradezu kokett zeigt auch Karlmanns Freund Herbert Hoffmann seinen nackten Seemannskörper, mit einem Selbstbewusstsein, das manch Jüngeren vor Neid erblassen lässt. Zora del Buono
„Beautiful Country“, Hans Petter Moland; USA/Norwegen, 126 Minuten
„Flammend’ Herz“, Andrea Schuler, Oliver Ruts; Deutschland/Schweiz, 90 Minuten
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