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Die Welt ist eine Insel
So viel mehr als eine Nachricht: Der Italiener Gianfranco Rosi hat mit einer Dokumentation über Lampedusa den Goldenen Bären gewonnen

Am Ende hieß es unisono in der Berichterstattung, es sei zwingend gewesen, diesen Film mit dem Hauptpreis der Berlinale, dem Goldenen Bären, auszuzeichnen. Ein Dokumentarfilm über Lampedusa, jene Insel im Mittelmeer, die schon seit über zwei Jahrzehnten mit dem Drama lebt, das Europa in den vergangenen Monaten nur scheinbar unversehens überkommen hat; ein „Flüchtlingsfilm“, wie „Fuocoammare“ salopp kategorisiert wurde, im Wettbewerb eines der wichtigsten und politischsten Filmfestivals der Welt, zu einer Zeit, in der die Nachrichtenlage sich täglich verschärft. Der Film des italienischen Regisseurs Gianfranco Rosi hat den Preis verdient, nicht den allzu einfachen Gedankengang dazu.

„Fuocoammare“ ist keine Dokumentation, die Schreckensmeldungen verlängert und Betroffenheitseffekte sucht. Einen Kurzfilm wollte Rosi drehen, über das, was sich auf Lampedusa abspielt. Vor Ort sei ihm sofort klar gewesen, dass er länger bleiben muss. Es wurde mehr als ein Jahr daraus, in dem der Regisseur mit seiner Kamera der Insel von vielen Seiten sehr nahe kam. Er folgt Samuele, dem zwölfjährigen Fischersohn, der mit der Steinschleuder Kakteen metzelt und danach mit Klebeband wieder heilen will, dem schlecht wird auf dem Boot des Vaters und der auf schwankenden Pontons versucht, seine Seefestigkeit zu trainieren. Rosi filmt im Auffanglager, wo die ausgezehrten Ankömmlinge, in Isodecken gehüllt, niemals Ruhe finden. Er besucht den Moderator des Inselradios, der sentimentale Hörerwünsche der Insulanerinnen erfüllt.

„Fuocoammare“ ist solch ein Wunschlied, es hat dem Film seinen Namen gegeben. Ein Schlager, der im Kontext der Gegenwart düstere Assoziationen weckt. Diese Überlagerung ist das Prinzip des Filmes. Die erbarmungslose Gleichzeitigkeit des Weltgeschehens auf einer 20 Quadratkilometer großen Insel, auf der nichts mehr harmlos erscheinen kann, sosehr man sich dem Schmunzeln hingeben will, wenn Samuele bei einem Arztbesuch den großen Mann mimt. Er hat Atemnot, der Inselarzt diagnostiziert Angst als Ursache, als würde er ganz Europa untersuchen.

Doktor Pietro Bartolo, der seit 1990, als die ersten Boote Lampedusa erreichten, für die Erstversorgung der Überlebenden und die Registrierung der Toten zuständig ist, dem das Flüchtlingsdrama zur Lebensaufgabe geworden ist, ohne dass er je eine Wahl gehabt hätte, ist der wahre Held des Filmes. Seine Momente sind jene, die einem den Hals zuschnüren, weil er mit einer Klarheit und Selbstverständlichkeit als Sprecher der Opfer auftritt, seine eigenen Albträume nährt, Journalisten berichtet, was er lieber vergessen würde. Aber er kann es nicht und will es nicht, die Welt soll die Tragödie sehen. Und jenes Inselvolk kennenlernen, das, wie Pietro Bartolo in Berlin erzählte, nun seit Jahrzehnten hilfsbereit und geduldig die Tragödie erlebt. „Ein Volk der Fischer“, sagte Bartolo. „Es ist in ihren Genen. Alles, was aus dem Meer kommt, ist ihnen stets willkommen.“ Martina Wimmer

Gianfranco Rosi: „Fuocoammare“, Weltkino, Italien/Frankreich, 2015, 108 Minuten


Ferne Gestade, befreiter Blick

Zwölf Stunden meditatives Reisen im Kinosessel. Regisseurin Ulrike Ottinger nimmt sich Zeit, um die Küsten der Beringsee zu erkunden

Fettschicht für Fettschicht zerlegen Robbenjäger ihren Fang am Strand von Tschukotka. Das Herz des Tieres pulsiert noch, eine Frau schöpft mit einem Becher Blut aus dem klaffenden Leib und trinkt. „Unsere Köchin Katja ist eine Yupik. Sie liebt das Rohe, nicht das Gekochte“, sagt Regisseurin Ulrike Ottinger in ihrem alemannisch gefärbten Tonfall. Der lakonische Kommentar ist auch Anspielung auf einen ihrer großen Lehrer: den Ethnologen Claude Lévi-Strauss, dessen Vorlesungen sie im Paris der 1960er-Jahre hörte. Nahezu in Echtzeit zeigt Ottinger die Jagd in „Chamissos Schatten“, einem fast zwölf Stunden dauernden Epos über die Küsten- und Inselbewohner der Beringsee, das, auf der Berlinale uraufgeführt, in drei Kapiteln ins Kino kommt.

Von allen Fleischsorten, die später im Kessel brodeln, werfen die Jäger ein Stück in die See – Relikt eines Rituals, das sich über Jahrhunderte erhalten hat. Schon der Naturforscher Georg Wilhelm Steller, Teilnehmer der Expedition des dänischen Kapitäns Vitus Bering, beschrieb 1741 den Umgang der „Wilden“ mit den erlegten Tieren. Seine Berichte begleiteten Ottinger ebenso wie die Logbücher von Adelbert von Chamisso und James Cook.

Wie in ihrem gesamten Werk sucht die Regisseurin auch in dieser großen Erzählung „das Vergangene im Gegenwärtigen“, den Mythos im Alltag. Niemals spielt sie das Alte gegen das Neue aus, ihr Reisen gleicht einem Umherschweifen. Mit einem kleinen Team bewegte sie sich mehrere Monate von Alaska zu den Aleuten, von Tschukotka zur Wrangelinsel, von Kamtschatka zur Beringinsel, in ihren Worten dahin, „wohin der Wind, die Wellen, die Freundschaften mit Menschen uns leiten“. Ottingers Filme sind Einladungen zum meditativen Mitreisen, ohne künstlich erzeugte Spannung, der Ton besteht einzig aus vorhandenen Geräuschen. Man hat sie „poetische Ethnologin“ genannt – ein Begriff, der ihr gefallen dürfte, für jedes Werk fand sie eine eigene Sprache. In „Chamissos Schatten“ bleibt die von ihr geführte Kamera ruhig, meist arbeitet sie mit Stativ. So entstanden Tableaus von großer Wucht, aber auch Demut.

Wenn sie aus dem Bullauge ihrer Kajüte filmt, ist das immer auch Eingeständnis eines beschränkten Blickes. Niemals, heißt das, kann man die Welt in ihrer Gesamtheit erfassen, wie es die Kolonisatoren für sich beanspruchten. Ulrike Ottinger ortet die Verheerungen kolonialer Macht, ein Thema, das ihr Schaffen prägt. Auf den Aleuten ist es die Präsenz der US-Konsumkultur, an der asiatischen Küste der Beringsee waren es die Versuche der UdSSR, Sowjetmenschen zu formen. Nun, da die Yupik, Itelmenen, Ewenen und Tschuktschen kaum noch mit Konserven alimentiert werden, kehren sie zur traditionellen Subsistenzwirtschaft zurück.

Ottinger begleitet sie beim Fischen, Jagen, Rentierzüchten, hört ihren Erinnerungen und Gesängen zu. Am Strand verrotten die Hinterlassenschaften des untergegangenen Systems, rostige Fässer, Wracks, dazwischen die bleichen Rippen der Wale, aufgerichtet wie Grabstelen. Christina Bylow

Ulrike Ottinger: „Chamissos Schatten. Eine Reise zur Beringsee in drei Kapiteln“, Real Fiction, Deutschland, 2016, 709 Minuten in vier Teilen


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mare No. 115

No. 115April / Mai 2016

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