Ehrenrettung für eine Insel
Ein Schuss Realismus, eine Prise Romantik: Zwei Kenner nehmen sich das Kitschbild Capri vor – und legen ihren eigenen Liebesschwur ab
Ein Bildband über Capri also. Womöglich auch noch in Farbe und mit Rudi Schurickes Fünfziger-Jahre-Schunkler „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ als Hintergrund? Derlei spöttische Skepsis kann man sich allerdings angesichts dieses nicht nur vom Umfang her großformatigen Buches sparen. Auch Hervé Vilard, Schurickes französischer Kollege aus den Siebzigern – man erinnere sich: „Capri, c’est fini / Je ne crois pas / Que j’y retournerai un jour“ –, taugt nicht zur Untermalung beim Blättern. Umberto D’Aniello nämlich fotografiert in Schwarz-Weiß, was seinen Aufnahmen der Insel eine strenge Schönheit verleiht.
Tatsächlich: kein Kitsch, nirgends. Gerade deshalb aber gewinnen Capri und Anacapri wirklich Kontur – vielleicht zum allerersten Mal in solch opulentem Rahmen. Natürlich muss niemand auf Bilder von Villen und Terrassen, kunstvollen Ufergärten und verwunschenen Grabmalen verzichten. Doch ebenso wie die beinahe bereits zu Tode gesungenen Capri-Fischer hier die markanten Alltagsgesichter ganz normaler Arbeiter (zurück-) bekommen, hat der in Anacapri geborene und italienweit renommierte Fotograf auch die restlichen Mitbewohner vom Bann purer Dienerschaft befreit: Jungen sind hier tatsächlich Jungen und keine ephebenhaften Lustknaben, Frauen keine zaubrischen Luftspiegelungen, sondern – je nachdem – südliche Schönheiten oder kompakte Mammas.
Claretta Cerios elegante Texte tun ein Übriges: Bar jeder Auftragsroutine, erfreuen sie in zweifacher Hinsicht – als profunde Überlegungen zu Geschichte und Tra-dition der Insel sowie als Quelle von gehobenem Klatsch und Tratsch. Die ebenfalls hier geborene Schriftstellerin erzählt mit leichter Hand von den eitlen Posen Curzio Malapartes und der Egomanie Axel Munthes (Älteren vielleicht noch bekannt in Gestalt eines dauerfröhlichen O. W. Fischer in der Verfilmung des „Buchs von San Michele“), sie lässt den schwulen Pappmaché-Ästhetizisten Baron Jacques d’Adelswärd-Fersen (1880–1923) auftreten, erinnert jedoch auch an die dunklen Tage der Insel, ehe die Amerikaner im Jahr 1943 Mussolinis Faschisten davonjagen konnten. Wohin freilich?, fragt man sich und erhält unausgesprochen eine sehr italienische Antwort: Hinterher war’s wieder mal keiner gewesen.
Aber wahrscheinlich ist auch das Capri, ein bei aller Offenheit verschworenes Eiland, das schon im Alten Rom Suetons Bericht von quasi multisexuellen Orgien in Grotten und Felshöhlen mit großäugigem Abscheu von sich gewiesen hatte: Aber wir doch nicht! Das Sympathische an Claretta Cerios Texten ist nun, dass sie selbst bei solchen Episoden nicht ins Altjüngferlich-Munkelnde verfallen – und auch zur Capreser Gegenwart einiges zu sagen haben. Ein Buch also für Capri-Kenner und -Novizen gleichermaßen, für Romantiker und Realisten. Und nicht zuletzt für jene, die bis jetzt dachten, die Insel sei ohnehin rettungslos démodé. Von wegen. Marko Martin
Claretta Cerio und Umberto D’Aniello: „Capri“, Hrsg. von Yvonne Meyer-Lohr, Prestel Verlag, München, 2007, 320 Seiten, 98 Euro
Hochwasserblues
Als es noch keine TV-Nachrichten gab, wurde das Unheil besungen
Es regnete seit Tagen, der Himmel war schwarz und wurde nur gelegentlich von gewaltigen Blitzen erleuchtet. Der Donner grollte so gewaltig, als habe das letzte Stündlein geschlagen, und der Wind wuchs zum Sturm an, als im April 1927 13 Dämme brachen und der Mississippi weite Teile des Hinterlands überflutete. Das Saint-Francis-Becken westlich von Memphis und das Tensas-Becken bei Natchez versanken für zwei, drei Monate in den Fluten. Eine Million Menschen musste ihre Häuser verlassen und vor den Wassermassen fliehen, in denen Felder und Straßen, Dörfer und Städte untergingen, und es war vor allem die ärmere, schwarze Bevölkerung, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.
Zehn Tage bevor die Flut ihren Höchststand erreichte, war ein Song von Bessie Smith, der Kaiserin des Blues, veröffentlicht worden, der diese Katastrophe nicht besser hätte beschreiben können, der „Back Water Blues“. Bessie Smith wurden daraufhin prophetische Fähigkeiten zugeschrieben, doch die Vorlage für ihre Beschreibung der Apokalypse war nicht das Hochwasser von 1927 gewesen, sondern das des Cumberland River, das am Weihnachtsmorgen 1926 Nashville überschwemmt hatte. Und sie ist auch nicht die Einzige, die einen Song darüber gesungen hat. „Kansas“ Joe McCoy beschrieb mit seiner Frau „Memphis Minnie“ Douglas im Juni 1929, was passiert, „When The Levee Breaks“. Der von Bob Dylan verehrte Charley Patton nahm später den Blues „High Water Everywhere“ auf. Casey Bill Weldon kombinierte den Blues mit dem Swing der Großstadt, als er 1936 in Chicago den „Flood Water Blues“ einspielte.
Zu hören sind all diese Aufnahmen auf einer Kompilation, die Christoph Wagner für das Label Trikont zusammengestellt hat. „Doom & Gloom. Early Songs of Angst and Disaster. 1927–1945“, so der Titel dieses ungewöhnlichen Samplers, enthält aber nicht nur Lieder über Dammbrüche und sintflutartige Regenfälle, sondern auch solche über Bergwerksunglücke, Autounfälle, Brände, Hurrikans und den Atombombenabwurf über Hiroshima.
„Als Seismografen ihrer Epoche“, so Wagner, brachten die Hillbilly- und Blues-Sänger „die kollektive Seelenlage“ ihrer Zeitgenossen treffend zum Ausdruck. Vom Standpunkt der Betroffenen aus beschrieben sie die Schrecken dieser Katastrophen so einfühlsam, dass die Zuhörer fasziniert waren vom Grauen. Zugleich wirkten ihre Songs wie Balsam auf die Psyche der verängstigten Bevölkerung. Der Traum vom Fortschritt hatte zwar einen gewaltigen Knacks bekommen, als die „Titanic“ bei ihrer Jungfernfahrt 1912 untergegangen war. Doch die Songs von Blind Willie Johnson und Richard „Rabbit“ Brown und den Cofer Brothers über diese Schiffskatastrophe vermittelten das tröstende Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein.
Dabei sieht Wagner Parallelen zu heute. Unwetter und Hurrikans, Tsunamis und der Klimawandel verdichteten sich zu einem „untergründig-düsteren Gefühl der Unsicherheit und latenten Bedrohung“. Nur gibt es heute keine Sänger mehr, die über all diese Katastrophen berichten, sondern nur Fernsehsender, die das Spiel mit der Angst perfekt beherrschen und schier endlos wiederholen. Und anders als Bessie Smith oder Charley Patton wollen sie den Zuschauer nicht trösten, sondern davon abhalten umzuschalten. Da kommen diese alten Songs über dunkle Verhängnisse gerade recht. Hollow Skai
Doom & Gloom: „Early Songs of Angst and Disaster. 1927–1945“, CD, Trikont/Indigo, München, 2007
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