Luftnummer

Der Seeadler ist ein Raubvogel. Wenn er Hunger hat, klaut er Möwen den Fisch

Begeben wir uns auf die Spur eines deutschen Irrtums: Wie konnte unter allen Tieren ausgerechnet der Adler zum Symbol für Kraft und Mut, für Stolz und Schnelligkeit werden? Schwärmende Laien besangen ihn einst, feierten ihn in Versform und machten ihn zum deutschen Übertier. Vieles wurde ihm dabei angedichtet, etwa dass er Kinder davontrage in seinen Horst oder mutig Rehwild angreife. Alles Humbug.

Faul und müßig verbringt er seine Tage, bleiern, antriebs- und regungslos. Er ist keiner, der dem Volk voranfliegt zu neuen Taten oder Ufern, eher taugt er zum Symboltier einer trägen Fernsehguckergesellschaft. Schlägt der Seeadler alle Stunde einmal mit den Flügeln, so erlebt der Beobachter rare Höhepunkte der Umtriebigkeit.

Ausdauernd kann der Adler in Bäumen sitzen und stundenlang in die Ferne blicken. Dabei erweckt er den Eindruck, er pflege die deutsche Neigung zum Grübeln, aber das ist natürlich nur Fassade, denn in Wahrheit ist unser Paradevogel ein wenig blöde und kann sich mit dem gemeinen Spatzen oder der pfiffigen Elster nicht messen. Wenn uns das Tier überhaupt Vorbild und Richtschnur sein kann, dann nur in seiner Neigung zur Treue. Lebenslang bleibt es dem Partner verbunden und fliegt nicht fremd – das, immerhin, ist lobenswert.

Kaiser und Könige, der Ornithologie unkundig, nahmen ihn als Symbol ihrer Macht ins Wappen auf, unter seinen Schwingen marschierten die Nationalsozialisten, und auch die junge Bundesrepublik suchte wie selbstverständlich Schutz unter seinen Fittichen. Bis auf den heutigen Tag wacht der Adler mit strengem Blick im Bundestag, äugt von unseren Geldmünzen und blickt von Fahnen drohend aufs Volk nieder. Nur keine Furcht, er tut nur so.

An der Wahl ausgerechnet dieses Tieres erhitzte sich kaum ein Gemüt, Streit gab es höchstens bei der Frage, welcher Adler der wahre und offizielle sei: der wendige Steinadler der bayerischen Berge, wie die Bayern sagen, oder der bräsige Seeadler der Küste, wie die Norddeutschen meinen? Die Lösung ist einfach: Der Original-, Vorzeige- und Staatsadler wird stets ohne Hosen dargestellt. Er trägt die Federn nur bis zum Knie, also ist es der Seeadler.

Er wird sechs Kilogramm schwer und kann als Folge eines wohligen und geruhsamen Lebens 40 Jahre alt werden. Er hat eine Spannweite von bis zu 2,70 Metern – wenn sich der Adler in die Lüfte erhebt, wirkt er wie ein kleines Flugzeug. Allerdings steigt er nur selten auf, meist fehlt ihm die Lust zum Fliegen. Die Küste ist seine Heimat, gern lässt er sich auch in der Nähe von Binnenseen nieder. Aus bis zu 500 Meter Höhe vermag er Fische zu erspähen, die nahe der Oberfläche schwimmen, und mit seinen Krallen, scharf wie Taschenmesser, ist der Seeadler für die Jagd auf sie bestens gerüstet. Doch das ist ein Aufwand, der ihm wesensfremd ist: Statt mühsam lebende Fische zu fangen, greift er oft und der Einfachheit halber nach den toten, die ganz oben schwimmen, oder raubt anderen Greifvögeln oder Kormoranen den frischen Fang. Zuweilen sitzt er am Straßenrand und nascht sogar von überfahrenem Getier, anstelle selbst zu jagen.

In den ersten Märztagen legt das Weibchen ein bis zwei Eier, brütet und wird dabei hin und wieder vom Männchen abgelöst, das dieser Tätigkeit lustlos nachgeht. Im April schlüpfen die Jungen, nach etwa zehn Wochen sind sie Ästlinge, spazieren durch die Bäume und stürzen dabei nicht selten ab. Dann landen sie mit dumpfem Geräusch auf dem Waldboden, wo sie von den Eltern bis zur Erlangung der Flugreife gefüttert werden müssen. Der Kronprinz der Lüfte beginnt seine Karriere oft als Bruchpilot.

Bis zum Herbst bleiben die Jungen in der Nähe des Horstes und lassen sich weiter von den Eltern durchfüttern. Dann durchstreifen sie zwei, drei Jahre vagabundierend das Ausland. Mit vier Jahren kehren sie in die Heimat zurück, suchen sich einen Partner und leben fortan standorttreu, was zwar anerkennenswert, allenfalls aber eine Sekundärtugend ist.

Gibt es nicht genügend andere Vögel der Küste, die besser als Symboltier der Deutschen hätten herhalten können? Warum ausgerechnet einen Vogel nehmen, der träge seine Tage verdöst, auch noch andere Tiere bestiehlt und wie zum Hohn das deutsche Wappen ziert? Wäre nicht der Kormoran die bessere Wahl gewesen – zumindest in den martialischen Zeiten deutscher Geschichte? Gemeinsam und in V-Formation jagen diese Schwimmvögel, und sie verbreiten Schrecken und Tod unter den Fischen, dass es jedem Vogelfreund ein helles Entzücken ist.


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mare No. 29

No. 29Dezember 2001 / Januar 2002

Eine Polemik von Rüdiger Winter

Rüdiger Winter, Jahrgang 1951, lebt in Hamburg. An Wochenenden beäugt er gelegentlich Seeadler durchs Fernglas, was, wie der Leser nun weiß, keine sehr spannende Tätigkeit ist.

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Vita Rüdiger Winter, Jahrgang 1951, lebt in Hamburg. An Wochenenden beäugt er gelegentlich Seeadler durchs Fernglas, was, wie der Leser nun weiß, keine sehr spannende Tätigkeit ist.
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Vita Rüdiger Winter, Jahrgang 1951, lebt in Hamburg. An Wochenenden beäugt er gelegentlich Seeadler durchs Fernglas, was, wie der Leser nun weiß, keine sehr spannende Tätigkeit ist.
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