Luftmeere und Salonozeane

Im Lauf des 19. Jahrhunderts gerät das Aquarium vom Modell eines Idylls zum Sinnbild menschlicher Gesellschaft

In Der Science-Fiction geht die Gefahr für die Menschheit oft von andersartigen Wesen aus, die von einem fremden Stern kommen, um die Erdenbewohner auszurotten. Auch in Maurice Renards Roman „Die blaue Gefahr“ von 1911, einem Vorläufer des Genres, kommt die Bedrohung aus dem Himmel: In einer beschaulichen Gegend in den französischen Alpen entdeckt man verstreute blutige Leichenteile, zugleich verschwinden plötzlich Menschen und Gegenstände. Nach einer Weile wird den Bewohnern des idyllischen Landstrichs klar, dass der Zugriff auf ihre Lebenswelt von oben geschieht. Scheinbar wahllos werden Objekte und Personen von einer nicht näher bestimmbaren Kraft in die Höhe gezogen und danach nie wieder gesehen.

Die Lösung des Rätsels dieser Vorgänge ist erschreckend: Unsichtbare Außerirdische, die sogenannten Sarvanten, erforschen mit ihrem Raumschiff die Erdatmosphäre, die ihnen wie ein riesiger Ozean erscheint, der einen fremden Planeten bedeckt. Aus diesem „Luftmeer“ fischen sie Lebewesen und Dinge heraus, die sie studieren, klassifizieren und in einer Art Museum aufbewahren.

Die menschliche Lebenswelt ist also für die Außerirdischen das Äquivalent zu dem, was die großen Weltmeere im Zug ihrer wissenschaftlichen Erforschung den Menschen geworden sind: ein unerschöpfliches Reservoir voller faszinierender Lebensformen, die zur freien Verfügung stehen und die es zu entdecken und zu untersuchen gilt. Das Behältnis, in dem die Sarvanten die humanen Exponate aufbewahren, wird daher vom Protagonisten in Anlehnung an das Aquarium als „Aerium“ bezeichnet: „Statt wie Tiere in wirklichen Käfigen stecken wir in unserem Lebenselement sicut [wie] Fische in einem Aquarium. Oder vielmehr, da dieses Element die Luft ist, in einem Aerium.“

Was auf den ersten Blick als etwas ungelenker Neologismus erscheinen mag, birgt bei näherem Hinsehen ungeahntes Erkenntnispotenzial: Was bedeutet es, das Aquarium einmal nicht vonseiten der Erbauer und Besitzer, sondern von seinen Bewohnern her zu denken? Wann und wie kann dieser Blickwechsel stattfinden? Und wie verwandt sind Fisch und Mensch, wenn man ihre jeweiligen Lebensräume betrachtet ? Als Renard seine fantastische Geschichte erzählt, ist das Aquarium, wie wir es kennen, noch keine 100 Jahre alt. Als sein Erfinder gilt der englische Naturforscher Philip Henry Gosse, der mit seiner 1854 erschienenen Studie „The Aquarium: An Unveiling of the Wonders of the Deep Sea“ auch den Namen dieser neuartigen Beobachtungsvorrichtung prägt. (Die vom „Vater der deutschen Aquaristik“ Emil Adolf Roßmäßler vorgeschlagene Eindeutschung „Wasserei“ hat sich hierzulande nicht durchsetzen können.) Die Schleiermetapher in Gosses Titel ist Programm: Erklärte Aufgabe des Aquariums war es, den Großstadtmenschen eine bis dato unbekannte Welt zu „enthüllen“, eine Welt, die von der ihrigen zwar nicht grundlegend verschieden war, aber einen bisher unentdeckten, großen Teil derselben darstellte. Nie zuvor hatte man Tiere und Pflanzen, die unter Wasser lebten, so nahe gesehen; nun wurden sie in den Städten präsentiert – und zwar lebend.

Die Möglichkeit, lebende Objekte zu beobachten, macht den Unterschied zwischen (Hobby-)Naturalisten und professionellen Zoologen alter Schule aus, wie Roßmäßler in einem Aquariumratgeber von 1857 formuliert: „Alle echten Forscher, denen es nicht blos darum zu thun ist, getrocknete Mumien von Pflanzen und Thieren aufzuspeichern und daran die Kennzeichen der äußeren Form zu studiren, denen das Leben die Hauptsache ist – alle pflegten seit den ältesten Zeiten der Naturforschung das zu erforschende Leben in ihrer nächsten Nähe, an ihren Arbeitstisch zu fesseln, um täglich und stündlich immer und immer wieder die Wandlungen und Gestaltungen desselben belauschen zu können.“

Während zoologisch geschulte Forscher die Tiere üblicherweise anhand von Knochen klassifizierten, waren die Aquarienbesitzer vor allen Dingen an den „Sitten“ und Lebensweisen der Tiere interessiert, das heißt an ihren Interaktionen untereinander und mit ihrer Umgebung.

Das als „See im Glase“ oder auch „Salonozean“ bezeichnete Aquarium ermöglichte diese Studien durch eine fast vollständige Durchsicht auf Lebensformen, die ansonsten, dem menschlichen Blick entzogen, in den Tiefen der Ozeane oder in den unergründlichen heimatlichen Seen existierten. Auf die Präsentation dieser bis dato unbekannten Spezies reagierten die ersten Aquarienbesucher mit Staunen und Faszination. Welch ungeahnte Formen- und Farbenvielfalt sich dort unter Wasser tummelte! Als Ausdruck der Begeisterung für die exotischen Lebewesen, die man im Tiefseeaquarium zu sehen bekam, lässt sich Jules Vernes Erzählung von der 20 000 Meilen umfassenden Reise des U-Bootes „Nautilus“ unter dessen legendärem Kapitän Nemo lesen, die ihren Ursprung einem Besuch der Aquarien der Pariser Weltausstellung von 1867 verdankt. Diese Inspiration wird an einer Stelle im Roman besonders deutlich: Die Seitenwände des prunkvollen Salons der „Nautilus“ lassen sich zur Seite schieben und geben durch gepanzerte Glasscheiben den Blick frei in die Lebenswelt eben jenes Meeres, in dem sich die Tiefseereisenden befinden.


Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 76. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 76

No. 76Oktober / November 2009

Von Isabel Kranz

Isabel Kranz, geboren 1977, ist Literaturwissenschaftlerin und hat über Walter Benjamins Passagenarbeit promoviert. Ihre Beschäftigung mit der bürgerlichen Lebenskultur des 19. Jahrhunderts brachte sie zur Geschichte der Aquarien. Sie hat in Augsburg, Berlin, Lille und New Haven studiert und ist seit Januar 2009 wissenschaftliche Koordinatorin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Mehr Informationen
Vita Isabel Kranz, geboren 1977, ist Literaturwissenschaftlerin und hat über Walter Benjamins Passagenarbeit promoviert. Ihre Beschäftigung mit der bürgerlichen Lebenskultur des 19. Jahrhunderts brachte sie zur Geschichte der Aquarien. Sie hat in Augsburg, Berlin, Lille und New Haven studiert und ist seit Januar 2009 wissenschaftliche Koordinatorin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Person Von Isabel Kranz
Vita Isabel Kranz, geboren 1977, ist Literaturwissenschaftlerin und hat über Walter Benjamins Passagenarbeit promoviert. Ihre Beschäftigung mit der bürgerlichen Lebenskultur des 19. Jahrhunderts brachte sie zur Geschichte der Aquarien. Sie hat in Augsburg, Berlin, Lille und New Haven studiert und ist seit Januar 2009 wissenschaftliche Koordinatorin an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.
Person Von Isabel Kranz