London, rule the waves

Früher Zentrum eines Weltreichs, heute Aorta der Geldströme und Schauplatz eines historischen Umbruchs. Bei näherem Hinsehen ist erkennbar: Seine herausragende Rolle verdankt London dem maritimen Erbe. Ein Spaziergang durch eine Metropole des Meeres

Welch Stolz. Und welche Souveränität, mit diesem Stolz zu spielen.

Da nimmt uns Ingenieur Eddie mit ins Innere der Thames Barrier. Im Film. Wenn der drahtige Mann in Marineblau Treppe um Treppe hinaufsteigt, von den unterirdischen Maschinenräumen bis zu den aus dem Wasser ragenden, wie gigantische Muscheln gestalteten Pfeilern der Tore, dann kämpft sich auf der Leinwand eine Comicfigur Eddie ebenfalls hoch. Im Unterschied zum echten Eddie stöhnt und schwitzt er. Immerhin entsprächen die 500 Stufen der Höhe der Nelsonsäule, sagt der echte Eddie. Und auf einer zweiten Leinwand erscheint sie gezeichnet mit dem winzigen Admiral im Himmel.

Die Lage ist ernst. Aber beherrschbar. 1953 kamen bei der Hollandflut in Großbritannien 307 Menschen ums Leben. Daraufhin wurde in den siebziger Jahren mit einem unerhörten Bau begonnen. Die Thames Barrier, eine mobile, versenkbare Stahlmauer von über 500 Meter Länge, aufgeteilt in zehn Einzeltore, soll London bei Spring- oder Hochfluten vor eindringendem Meerwasser schützen. 1984 weihte Königin Elisabeth im algengrünen Mantelkleid die Flusssperre ein. Wenn der echte Eddie nun Tonnenzahlen aufsagt, dann sieht man über dem Comic-Eddie sich stapelnde Elefanten.

Die Thames Barrier ist eines der weltgrößten Sturmflutsperrwerke und Eddies Stolz. Er garantiert, dass sie funktioniert. Wenn der Strom im Kontrollturm ausfiele, dann gebe es in allen zehn Toren Notstromaggregate. Die gelben hydraulischen Eisenarme sind doppelt. Bräche einer, könnte der andere das Rad in Bewegung setzen, das die Stahlmauerplatte vom Grund hebt und den Fluss innerhalb weniger Minuten sperrt. Eddie arbeitet mit 90 Leuten. Und als stünde er auf einer Kommandobrücke, sagt er: Wenn wir die Barrier schließen müssen, dann können wir das tun! Wozu der Comic-Eddie grinst.

Die Thames Barrier ist schön. Vom Stromlauf der Themse aus gesehen, wirken ihre Tore wie senkrecht gestellte Schiffsbuge, von der Mündung aus gleichen sie Gesichtern, mit den blauen Augen ihrer Fenster, den gelben Zungen ihrer hydraulischen Stahlarme, den Stirnen ihrer Erker und den Brauen ihrer Geländer. Futuristische Totemtiere. Und am Horizont stehen die opaken Hochhäuser der Stadt, die durch sie geschützt werden. Von der Seite aber sind die Gates silberne Segel, die Fahrt aufnehmen für London und das Vereinigte Königreich.

Ebbe, die Wellen schlagen nur müde an. Schwäne gründeln im brackigen Wasser, stecken ihre Schnäbel in den Schlamm zwischen den Steinen. Bei der Thames Barrier endet oder beginnt der 184 Meilen lange Thames Path, ein Fernwanderweg, der die Barrier mit der Themsequelle verbindet.

Wild blühende Essigbäume, Malven, Stockrosen säumen den Weg, der durch verfallende oder noch arbeitende Werften führt. Niemandsland hinter Mauern, versteppte Parkplätze, Kräne und Sandhaufen, Förderbänder. Schweißgeräusche aus einer offenen Werkstatt. Ein junger Mann reinigt auf Böcken liegende Metallträger mit einem scharfen Wasserstrahl. Vor einem Pub sitzen vier ältere Frauen in Kleidern, die an Schürzen erinnern, auf dem Wachstuch Wein in Gläsern, die besser für Wasser taugten. Ein Mops liegt ihnen zu Füßen. Er sieht geliebt aus. Dann der Greenwich Yacht Club, und die Szene ändert sich. Der Weg wird zur Promenade, gepflegte Grünflächen vor bunten Reihenhäusern. Holzbänke wie Strandliegen, auf denen Handwerker dösend ihre Mittagspause verbringen, während Geschäftsleute im Stehen in ihre Handys tippen. Hinter einem Bauzaun entsteht eine Armada von Apartmenthochhäusern, die Fassaden mit blauem Glas verspiegelt, ihre Schräge den Konturen von Schiffen verpflichtet.

Vom Millennium Dome „The O2“, einem 20 000 Menschen fassenden Eventzelt, nimmt die Emirates Air Line ihren Ausgang. Das ist eine Seilbahn, die über die Themse hinweg die Greenwich-Halbinsel mit den alten Royal Docks verbindet. Von hier übersieht man das weite Areal im Umbruch. Waste Land. Wartendes Land. Die Flugzeuge des City Airport starten und landen.

Der Londoner Hafen zieht sich von der Innenstadt bis zur Mündung der Themse ins Meer. Er steht unter dem Einfluss der Gezeiten. Im 19. Jahrhundert durch riesige Dockanlagen erweitert, war er einmal der größte Hafen der Welt. Mit dem Aufkommen der Container in den 1970er-Jahren erwiesen sich seine Becken als zu klein. Die großen Schiffe legten bald näher an der Themsemündung in Tilbury an oder im Containerhafen von Felixstowe.

Die Themse, das Rückgrat der Stadt, war aber auch Prachtboulevard, seiden schimmerndes Band der Ruderrituale, Steg für vergoldete Barken, auf denen sich Könige zeigten, Bühne für Admirale, die mit ihren Flotten Seesiege feierten.


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mare No. 136

No. 136Oktober / November 2019

Von Angelika Overath und Christian Schneider

Angelika Overath lebt als Reporterin, Schriftstellerin und Literaturkritikerin im Engadin. Im vergangenen Jahr erschien ihr Roman Ein Winter in Istanbul. Auf den schnellen Thames Clippers dachte sie an die ruhigen Fähren des Bosporus.

Christian Schneider ist Illustrator in Berlin. Die beeindruckenden Zeichnungen für mare waren ihm ein Anliegen. Für ihn ist London seit Teenager-E-Gitarristen-Zeiten ein Sehnsuchtsort.

Ursprünglich schlug Ulrike Draesner, Schriftstellerin und Literaturprofessorin in Leipzig, vor, einmal durch das maritime London zu spazieren. Sie kennt sich dort aus: 2016 erschien im Insel Verlag ihr Buch London – Lieblingsorte.

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Vita Angelika Overath lebt als Reporterin, Schriftstellerin und Literaturkritikerin im Engadin. Im vergangenen Jahr erschien ihr Roman Ein Winter in Istanbul. Auf den schnellen Thames Clippers dachte sie an die ruhigen Fähren des Bosporus.

Christian Schneider ist Illustrator in Berlin. Die beeindruckenden Zeichnungen für mare waren ihm ein Anliegen. Für ihn ist London seit Teenager-E-Gitarristen-Zeiten ein Sehnsuchtsort.

Ursprünglich schlug Ulrike Draesner, Schriftstellerin und Literaturprofessorin in Leipzig, vor, einmal durch das maritime London zu spazieren. Sie kennt sich dort aus: 2016 erschien im Insel Verlag ihr Buch London – Lieblingsorte.
Person Von Angelika Overath und Christian Schneider
Vita Angelika Overath lebt als Reporterin, Schriftstellerin und Literaturkritikerin im Engadin. Im vergangenen Jahr erschien ihr Roman Ein Winter in Istanbul. Auf den schnellen Thames Clippers dachte sie an die ruhigen Fähren des Bosporus.

Christian Schneider ist Illustrator in Berlin. Die beeindruckenden Zeichnungen für mare waren ihm ein Anliegen. Für ihn ist London seit Teenager-E-Gitarristen-Zeiten ein Sehnsuchtsort.

Ursprünglich schlug Ulrike Draesner, Schriftstellerin und Literaturprofessorin in Leipzig, vor, einmal durch das maritime London zu spazieren. Sie kennt sich dort aus: 2016 erschien im Insel Verlag ihr Buch London – Lieblingsorte.
Person Von Angelika Overath und Christian Schneider