Lasst sie frei!

Inhuman, grausam und schädlich in jeder Hinsicht – so sieht es der kritische Blick eines Schriftstellers auf die heutigen modernen Fischfarmen. Eine literarische Anklage

Entspannen Sie sich, lassen Sie los. Lassen Sie die Bilder, die meine Worte heraufbeschwören, vor Ihrem geistigen Auge lebendig werden. Vertrauen Sie mir bei allem, was ich sage. Denn ich weiß ganz genau, wohin wir gehen, jeden einzelnen Schritt. Wir gehen gemeinsam dorthin. 

Also. Stellen Sie sich als Erstes ein großes, kreisrundes Gebilde ohne Dach vor. Es hat hohe Wände und ist fast bis an den Rand mit Wasser gefüllt – unterlegt mit einem dumpfen, industriellen Brummen. Hören Sie es, so gut es geht. Betrachten Sie es von oben. Als würden Sie darüber schweben. Aus dieser Höhe sehen Sie, dass das Wasser in dem Gebilde Wirbel bildet, ähnlich einem Wasserstrudel in einem Abfluss. In der Mitte etwas tiefer, am Außenrand dicker. Und wenn Sie genauer hinschauen, sehen Sie, dass der Wasserwirbel nicht die einzige Bewegung in der riesigen Wanne ist. Es handelt sich um einen riesigen Wassertank voller großer Fische, alle von derselben Farbe, Form und Größe. 

Mit „derselbe“ meine ich nicht „ähnlich“. Ich meine nicht nur von „derselben Art“. Diese Fische sind bis ins kleinste Detail Kopien. Sie sind an der Bauchseite und an den Seiten stumpf zinnfarben, oben wiederum von einem stumpfen Braun. Sie schwimmen unentwegt im Kreis, alle mit präzis derselben Geschwindigkeit, sodass man unmöglich erkennen kann, ob die Strömung sie wie Treibgut mit sich reißt oder ob sie selbst diesen endlosen Wirbel im Uhrzeigersinn erzeugen. 

Jetzt möchte ich, dass Sie dieses Bild wieder vergessen. Schwierig, ich weiß. Sie schauen jetzt im Geiste nach oben und sehen Dutzende und Aberdutzende von identischen Becken, die in makellos geraden Reihen stehen, fast so weit das Auge reicht. Es handelt sich um eine Art Laborfischzucht von einer Größe, die alle Ihre bisherigen Vorstellungen weit übersteigt. Wenn Sie in die Ferne schauen, erkennen Sie, dass das, was Sie für recht flache Wannen gehalten haben, in Wahrheit Silos ohne Dach sind, von der Art, wie sie in der Nahrungs- und Futtermittelindustrie und der Petrochemie verwendet werden. Die Wände bestehen aus Stahlblechen, die geriffelt sind, was ihnen ein altmodisches Aussehen verleiht, und die Silos sind mehrere Stockwerke hoch, sodass sich in jedem davon Zigtausende Fische befinden müssen. 

Wenn Sie wieder nach unten schauen, sehen Sie keinen Grund in diesen Brunnen, denn die Silos sind derart vollgepackt, dass kein Licht all das lebendige Fleisch durchdringen kann; denken Sie an Menschenmassen, an eng gedrängte Pilgermengen, die die Kaaba umkreisen und sich wie all solche Menschenströme mit scheinbar alles beherrschender biologischer Kraft bewegen. Jedes einzelne Tier ist mannsgroß und besitzt ganz bestimmte Merkmale, spitze Schwanzflossen, spitzer Kopf, einem Hai nicht ganz unähnlich. Es besitzt zudem einen Rückenkamm, der durchaus zu einem Dinosaurier passen könnte. Es handelt sich um Störe.

Jetzt stellen Sie sich bitte einen Ortswechsel vor, nur mit denselben Bewohnern. Dieselbe Familie, ein anderes Haus, wenn Sie so wollen. Stellen Sie sich dieselben mannsgroßen Fische vor, wie sie zu Zigtausenden ihre Kreise ziehen, doch diesmal mitten im Atlantik. Nicht im Meer verteilt allerdings. Ganz im Gegenteil. Noch immer stecken sie in einer großen, vollgepackten Säule, die von der Wasseroberfläche bis weit in die Tiefen reicht. Sie sind noch immer eingepfercht, aber nicht mehr in einem Metallsilo, sondern in einem in etwa gleich großen Metallkäfig. Dieser Käfig ist an massiven apfelgrünen Bojen festgemacht, die ein paar Meilen vor der Küste von Teneriffa am Meeresboden verankert sind. 

Im Meerwasser sind diese kreisenden Fische nicht weniger beeindruckend als im Labor, sie haben sich ja nicht verändert, was nicht überrascht, denn in 100  Millionen Jahren haben sie sich nur wenig weiterentwickelt, lebende Fossilien nennt man sie, und doch werden sie behandelt wie Hühner in Legebatterien, und das offene Meer unter ihren Käfigen ist wie ein offener Abort. Damit meine ich die toten Zonen am Meeresboden, auf die der endlose Regen aus Antibiotika, Futterresten, toten Fischen, Kot niederfällt. Ich gebe den Käfigen die Schuld, nicht den Fischen. 

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Dies ist ein Auszug aus dem Text. Den ganzen Beitrag lesen Sie in mare No. 141. Abonnentinnen und Abonnenten lesen ihn auch hier im mare Archiv.

mare No. 141

mare No. 141August / September 2020

Von Cormac James und Bernhard Lang

Bei diesem Text des irischen Schriftstellers Cormac James, Jahrgang 1971, handelt es sich um die gekürzte Fassung seiner Erzählung „Issue“, die er für das Internationale Literaturfes­tival Berlin 2017 verfasst hat. Zu James’ bekanntestem Werk zählt der Roman „The Surfacing“ (2014), eine literarische Verarbeitung der Frank­lin-Expedition 1845/46.

Bernhard Lang, geboren 1970, Fotograf in München, bewies bei dieser Geschichte einigen Mut. So öffnete er während des Hubschrauberflugs über dem Nordmeer westlich von Trondheim gut zehnmal die Tür und stellte sich auf die Kufen, um optimale Bilder der dortigen Fischfarmen zu schießen.

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Vita Bei diesem Text des irischen Schriftstellers Cormac James, Jahrgang 1971, handelt es sich um die gekürzte Fassung seiner Erzählung „Issue“, die er für das Internationale Literaturfes­tival Berlin 2017 verfasst hat. Zu James’ bekanntestem Werk zählt der Roman „The Surfacing“ (2014), eine literarische Verarbeitung der Frank­lin-Expedition 1845/46.

Bernhard Lang, geboren 1970, Fotograf in München, bewies bei dieser Geschichte einigen Mut. So öffnete er während des Hubschrauberflugs über dem Nordmeer westlich von Trondheim gut zehnmal die Tür und stellte sich auf die Kufen, um optimale Bilder der dortigen Fischfarmen zu schießen.
Person Von Cormac James und Bernhard Lang
Vita Bei diesem Text des irischen Schriftstellers Cormac James, Jahrgang 1971, handelt es sich um die gekürzte Fassung seiner Erzählung „Issue“, die er für das Internationale Literaturfes­tival Berlin 2017 verfasst hat. Zu James’ bekanntestem Werk zählt der Roman „The Surfacing“ (2014), eine literarische Verarbeitung der Frank­lin-Expedition 1845/46.

Bernhard Lang, geboren 1970, Fotograf in München, bewies bei dieser Geschichte einigen Mut. So öffnete er während des Hubschrauberflugs über dem Nordmeer westlich von Trondheim gut zehnmal die Tür und stellte sich auf die Kufen, um optimale Bilder der dortigen Fischfarmen zu schießen.
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