La Grande-Motte

Einst war La Grande-Motte geschmäht als Retortenstadt für den erwachenden Massentourismus an Frankreichs Mittelmeerküste. Heute gilt es als eine Perle der modernen Architektur

Sollte der Architekt das pharaonische Projekt nicht erfolgreich aus den Dünen emporwachsen lassen, sondern es sprichwörtlich in den Sand setzen und vermasseln, seien die Tage seiner Karriere gezählt. Pierre Racine, Ministerialrat und oberster Auftraggeber von Jean Balladur, drohte ihm: „Wenn Sie scheitern, nun ja, dann schneide ich Ihnen den Kopf ab.“ Die Anfang der 1960er-Jahre ins Leben gerufene staatliche „Mission Racine“, benannt nach dem einflussreichen Politiker, war eines der größten urbanen Abenteuer nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Architekt Jean Balladur wurde zum Hauptschöpfer dieses utopischen Unterfangens bestimmt. 

Präsident Charles de Gaulle wollte nicht länger zusehen, wie seine Landsleute in den Sommerferien zu den Stränden der spanischen Costa Brava oder der italienischen Riviera ausbüxten. Lieber war es den Regierenden, wenn „Monsieur Dupont“, der Durchschnittsfranzose, sein durch Nachkriegswohlstand gestiegenes Urlaubsbudget im eigenen Land ausgab. Doch wo? Die klimatisch launigen Atlantikküsten von Bretagne und Normandie taugten nicht zum Brutzeln in der Sonne. Und die villengesäumte Côte d’Azur war für die Schickeria erschwinglich, nicht aber für Arbeiter- und Mittelklassefamilien. Dabei bot sich am 180 Kilometer langen Mittelmeerstreifen zwischen Per­pignan und Montpellier unberührtes Terrain mit weiten Sandstränden und viel Sonne. Sumpfige Einöden und buschig-dornige Stierweiden, von den Winden Mistral und Tramontane gepeitscht, hatten jedoch die Konstruktion von Resorts, Hotels und Campings bis dahin verhindert. Obendrein waren der Feriensound hier nicht die „tubes de l’été“, die Sommerschlager von Sylvie Vartan, Charles Trenet und Joe Dassin, sondern das Summen gnadenloser Stechmückengeschwader.

De Gaulle machte die Erschließung der vernachlässigten Küstenlandschaft der Region Languedoc-Roussillon, heute in Region Okzitanien umgetauft, zur Chef­sache. Mit der administrativen Umsetzung beauftragte er seinen Vertrauten Pierre Racine. Zuerst mussten Chemikalien, die heute auf der Schwarzen Liste stehen, mit Flugzeugen versprüht werden, um die Moskito­plage zu bekämpfen. Zur Erschließung der Grundstücke wurden Dämme und Deiche errichtet und Millionen Tonnen Sand bewegt. Von 1963 bis in die 1980er-Jahre entstanden sechs maßgeschneiderte futuristische Seebadstädte mit Hunderttausenden Ferienbetten.

Das Prestigeprojekt der „Mission Racine“, gekennzeichnet von gewaltigen Ausmaßen und architektonischer Gewagtheit, war La Grande-Motte, 20 Kilo­meter südöstlich vom geschichtsträchtigen Montpellier entfernt. Jean Balladur nahm sich dieser 750 Hektar großen Baustelle an und widmete ihr, unterstützt von weiteren Planern, Designern, Landschaftsgärtnern und Künstlern, mehr als 30 Jahre seines Lebens. Entstehen sollte eine bis ins kleinste Detail konzipierte touris­tische Idealstadt mit allen nur erdenklichen Infrastrukturen. Der Erfolg dauert bis heute an. La Grande-Motte zieht im Hochsommer mehr als 100 000 Touristen an und zählt fast 9000 ganzjährige Bewohner. 

Balladur ließ sich von sozialen und humanistischen Grundideen treiben. 1924 in der Türkei geboren, im Zweiten Weltkrieg Résistancekämpfer, hatte er in Paris Literatur und Philosophie studiert. Er war mit Jean-Paul Sartre befreundet gewesen, an dessen Zeitschrift „Les Temps modernes“ er mitarbeitete, eher er sich mit ihm wegen unterschiedlicher Meinungen zum sowjetischen Gulag verkrachte. Erfahrungen in der Architektur sammelte er während eines Praktikums bei dem Architekturidol Le Corbusier. Seine ersten Realisa­tionen waren noch von den sachlichen, rechtwinkligen Dogmen des Bauhauses geprägt. Reisen in ferne Länder und zu versunkenen Zivilisationen inspirierten Balladur zu einem visionären und verspielten Stil, den er in seiner ganzen Konsequenz und Keckheit in La Grande-Motte umsetzte. Die aufstrebenden Formen der ersten Konstruktionen, Pyramidenhochhäuser mit Ferienapartments, entlehnte er den Stufenpyramiden von Teo­ti­huacán in Mexiko. Es war, als hätten sich die Az­teken in die Moderne verirrt. Wohl wissend, dass die zukünftigen Gäste hauptsächlich an See und Sonne interessiert sein würden, richtete Balladur die Wohneinheiten schräg zum Meer aus. So konnten doppelt so viele Apartments mit Meerblick untergebracht werden. Die Silhouette der Pyramidenresidenzen war eine Hommage an die Berge der Cevennen.

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mare No. 154

mare No. 154Oktober / November 2022

Von Rob Kieffer

Rob Kieffer, Jahrgang 1957, war als Reporter schon oft an Frankreichs okzitanischer Küste. Die faszinierendste Sicht auf La Grande-Motte hatte er von oben, als das Flugzeug eine Schleife über dem Meer drehte, um zur Landung am Flughafen von Montpellier anzusetzen.

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Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, war als Reporter schon oft an Frankreichs okzitanischer Küste. Die faszinierendste Sicht auf La Grande-Motte hatte er von oben, als das Flugzeug eine Schleife über dem Meer drehte, um zur Landung am Flughafen von Montpellier anzusetzen.
Person Von Rob Kieffer
Vita Rob Kieffer, Jahrgang 1957, war als Reporter schon oft an Frankreichs okzitanischer Küste. Die faszinierendste Sicht auf La Grande-Motte hatte er von oben, als das Flugzeug eine Schleife über dem Meer drehte, um zur Landung am Flughafen von Montpellier anzusetzen.
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