Das kleine Wesen, vielleicht 80 Zentimeter groß, ist völlig eingetrocknet und erinnert entfernt an eine ägyptische Mumie. Die Haut ist dunkelbraun, die Nase flach, die Augen sind geschlossen, die Lippen haben sich weit zurückgezogen, sodass man die Zähne sehen kann. Der Busen ist eingesunken, aber erkennbar, Haare sind kaum noch vorhanden. Der Unterleib besteht aus einem Fischschwanz, dessen Schuppen matt glänzen. Berühren kann man diese Kreatur nicht, denn eine nach Maß angefertigte Glasglocke schützt sie vor den vielen Neugierigen, die sich im Königlichen Museum in Den Haag die Nasen platt drücken. Einer von ihnen ist Alexandre Dumas. Der französische Erfolgsautor schreibt im 19. Jahrhundert nicht nur einen Roman nach dem anderen, er ist auch viel unterwegs. Zum einen, um Gläubigern aus dem Weg zu gehen, denn der Schriftsteller gibt leidenschaftlich gern jeden Franc aus, den er verdient; zum anderen, um sich Anregungen für seine Abenteuergeschichten und Reiseerzählungen zu holen. Hierbei findet er Stoff im Überfluss.
Sein neuer Roman „Die schwarze Tulpe“ (1850) wird zum Teil in den Niederlanden spielen. An den Anfang seiner fantastischen Erzählung „Die Ehen des Vaters Olifus“ (1849) stellt er sogar seine Begegnung mit der mumifizierten Meerjungfrau von Den Haag. Denn Dumas ist fasziniert von der exotischen Ästhetik des Exponats. An der Echtheit hat er keinerlei Zweifel.
Dumas ist bei Weitem nicht der Einzige, den die Meerjungfrau von Den Haag magisch anzieht. Ebenso wenig ist sie die einzige, die im 19. Jahrhundert in Museen, auf Ausstellungen oder Jahrmärkten zu bewundern ist. Im Gegenteil, Meerjungfrauen erleben einen wahren Boom.
Die erste Vorlage liefert zu Beginn des Jahrhunderts der französische Zoologe Jean-Baptiste de Lamarck, der noch vor Darwin eine erste einfache Evolutionstheorie veröffentlicht. Ihr zufolge ist die Entstehung und Höherentwicklung neuer Arten jederzeit möglich, die Vielfalt der Arten faktisch unbegrenzt. Die Entdeckung immer neuer Pflanzen und Tiere scheint ihm recht zu geben.
Für großes Medienecho sorgt 1841 der britische Zoologe Richard Owen. Er erfindet einen Sammelbegriff für die unbekannten, riesigen Tiere, deren Knochen und Zähne seit Jahrzehnten in Kiesgruben und Bergwerken ans Tageslicht kommen: Dinosaurier. Endlich weiß man, dass es schreckliche Echsen waren, die einst die Erde beherrschten. In England ist die Begeisterung so groß, dass der für die Weltausstellung errichtete Kristallpalast 1854 für eine außergewöhnliche Sonderschau genutzt wird. Nach Owens Anweisungen werden aus Beton lebensgroße Modelle von Dinosauriern gegossen. Hunderttausende pilgern zum Kristallpalast, um die „Monstershow“ zu sehen. Wer nicht kommen kann, bestaunt die Bilder in den Zeitungen.
Während die Kirchen vergeblich gegen die sich abzeichnende Erosion des biblischen Schöpfungsmythos ankämpfen, blühen die Fantasien des Publikums. Wenn es einst diese gigantischen Drachen gegeben hat, was spricht da noch gegen die Existenz von kleinen Meerjungfrauen? Als 1856 im Neandertal bei Düsseldorf auch noch die Knochenreste einer unbekannten, ausgestorbenen Menschenart entdeckt werden, scheint alles möglich.
Die Meerjungfrauen, die zu dieser Zeit in englischen, niederländischen oder französischen Museen ausgestellt sind, werden nun mit anderen Augen gesehen. Ganz im Gegensatz zu den vielen antiken oder romantischen Darstellungen sind die Exponate ausgesprochen hässlich. Keine schönen, vollbusigen, betörenden Sirenen werden dem Publikum geboten, sondern vertrocknete, verschrumpelte Zerrbilder der seit der Antike bekannten mythologischen Wesen.
Der Grund für deren abstoßendes Äußeres liegt in der Herkunft der Exponate, ist aber auch eine Folge einer ganzen Reihe von Beschreibungen, die im 19. Jahrhundert verstärkt kursieren. Besondere Beachtung findet dabei das Bordbuch von Christoph Kolumbus, das zwar 1493 an Bord der „Santa María“ geschrieben wurde, aber erst 1825 veröffentlicht wird. Darin berichtet der Entdecker Amerikas, am 9. Januar 1493 in der Karibik gleich drei Meerjungfrauen beobachtet zu haben. Weithin sichtbar hätten sie ihre Oberkörper aus dem Wasser gereckt. „Meerjungfrauen sind nicht halb so hübsch, wie sie beschrieben wurden. Ihre Gesichter sehen eher aus wie die von Männern.“
Die Leser glauben ihm, denn schließlich ist Kolumbus eine allgemein respektierte historische Größe. Die Hässlichkeit wird nicht als Makel, sondern als Zeichen der Echtheit angesehen. Dass der Genueser lediglich die in Europa unbekannten Seekühe beobachtet hat, wird erst im 20. Jahrhundert aufgeklärt.
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Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, aus dem mittelfränkischen Uehlfeld, kennt Geschichten über Meerjungfrauen seit seiner Kindheit. Er wuchs im ostfriesischen Fischerdorf Greetsiel auf, wo Seemannsgarn seit je einen festen Platz hat.
Vita | Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, aus dem mittelfränkischen Uehlfeld, kennt Geschichten über Meerjungfrauen seit seiner Kindheit. Er wuchs im ostfriesischen Fischerdorf Greetsiel auf, wo Seemannsgarn seit je einen festen Platz hat. |
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Person | Von Bernd Flessner |
Vita | Autor Bernd Flessner, Jahrgang 1957, aus dem mittelfränkischen Uehlfeld, kennt Geschichten über Meerjungfrauen seit seiner Kindheit. Er wuchs im ostfriesischen Fischerdorf Greetsiel auf, wo Seemannsgarn seit je einen festen Platz hat. |
Person | Von Bernd Flessner |