Kingas Kristall

Im polnischen Wieliczka hauten Bergleute das Salz eines vergangenen Ozeans. Die Mine zählt heute zum Weltkulturerbe

Welch eine Versuchung für den wissbegierigen Herrn Geheimrat! Sollte er es wagen? An den Fels herantreten, schlecken, das Salz auf den Geschmacksknospen der Zunge zergehen lassen? Sich eins fühlen mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält? Contenance wird die Neugier am Ende besiegt haben. Schließlich war der Geheimrat, Johann Wolfgang von Goethe, Teilnehmer der offiziellen Delegation des Herzogs von Weimar.

Großartiges hatten die Studienreisenden von 1790 schon von der Salzmine im Süden Schlesiens gehört, in der „Encyclopédie“ von Diderot gar einen Stich bewundern und Details lesen können. Von Wieliczka, dem Städtchen über der Erde – und der Metropole darunter. Von hallengroßen Abbaukammern und zig Kilometern Stollenlabyrinth, damals auf vier Sohlen verteilt, zu erreichen über steil in den Stein gehauene Stiegen. Von Kunst im Bau. Kapellen mit Heiligenstatuen aus Steinsalz. Von moderner Technik: Pferde trieben gigantische Aufzugspindeln an, und nun gab es sogar den Plan, Dampfmaschinen zu bauen. Wie viele vorher war die Weimarer Delegation von Pracht wie Produktivität beeindruckt. Seit 2001 steht Goethe selbst als Steinsalzstatue im Bergwerk, gravitätisch vor der Abbaukammer namens Weimar.

„Do not lick, please!“ – bitte nicht an den Wänden, nicht an den Statuen lecken – werden Besucher auch heute gebeten, wenn sie das kleine, blumengeschmückte Empfangsgebäude passieren, um in den Danilowicz-Schacht einzufahren. Fast eine Million Menschen sind es im Jahr. Polnische Schulklassen, deutsche Nachbarn, Unterweltenbummler aus Amerika und Asien. Bis zu 135 Meter tief steigen sie hinunter, inzwischen auf stabilen, schmucken Holztreppen, passieren Emporen und Galerien, über sich tragende Balkengewölbe, die an gotische Kirchenschiffe erinnern, unter sich künstliche Seen mit einem Salzgehalt wie im Toten Meer.

Noch einmal fast 200 Meter Tiefe sind dann, weniger komfortabel, den Bergleuten vorbehalten. Die wissen per se, was zu tun ist. Für Gäste – über einsneunzig – ist neben „In den Gängen den Kopf einziehen!“ das Schleckverbot die wichtigste Erinnerung. Ältere halten sich meist daran, Jüngere seltener, noch halten sich die Auswirkungen in Grenzen. Wie praktisch, könnte man es auch den Süßwasserrinnsalen im Berg vorschreiben. Doch die sind so hungrig, dass sie der Mine tatsächlich ihre Salzadern nach und nach weglecken und das Gestein damit mürbe machen könnten.

Vor 20 Millionen Jahren war hier eh nichts als Wasser. Gesättigtes Salzwasser allerdings, ein Meer des Miozän. Doch die Natur überlegte es sich anders. Es wurde heiß, das Wasser verdunstete. Das zurückgelassene Salz bildete langsam Kristalle. Auch in den nächsten Millionen Jahren kam die Region nicht zur Ruhe. Gewaltige tektonische Prozesse warfen im Superzeitlupentempo die Karpaten auf. Nördlich davon wurden die salzhaltigen Formationen tief in den Grund gepresst, als Blöcke oder gefaltete Flöze. Etwa 3500 vor Christus entdecken Bauern in der Gegend salzhaltige Quellen und beginnen die Sole zu sieden. Salz ist wertvoll. Unersetzlich beim Konservieren von Nahrung und Gerben von Leder. Irgendwann versiegen die oberirdischen Quellen. Die Bauern legen Brunnen an, wollen tiefer schöpfen, stoßen plötzlich auf die ersten Steinsalzblöcke. Nur einen Wimpernschlag der Geschichte später, 1044 nach Christus, belegt ein Dokument bereits den Namen des Ortes: Magnum Sal, Großes Salz, auf Polnisch Wieliczka. Seit dem 13. Jahrhundert ohne Unterbrechung bis 1996 wird fortan dem Berg das weiße Gold abgenommen.

Auch Zimmermänner, Schmiede, Fassbinder und Stallknechte beschäftigt der Großbetrieb. Vor allem jedoch Bergleute. Ihre Arbeit ist mühsam. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts kriechen die Kumpel, ausgestattet mit Talg-, später Öllampen, durch die Flöze, lösen das Steinsalz mit Eisenkeil, Hammer und Schlägel, formen es zu mannshohen Walzen oder handlichen Bruchstücken, bringen diese auf Wagen und Schlitten zu Sammelstellen, wo alles in Fässern zu Tage befördert und oben gradiert wird. Es ist gutes Material. Seine Reinheit erreicht bis zu 95 Prozent.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts kommt unten auch Dynamit zum Einsatz. Erst recht gilt jetzt das Motto: „So viel wie möglich wegnehmen, so viel wie nötig stehen lassen.“ Die Arbeit ist gefährlich. Oft überlebt ein Zehntel der Belegschaft das Jahr nicht. Doch betriebswirtschaftlich gesehen, floriert die Mine. Früh geht sie in den Besitz des polnischen Königshauses über. Die Erträge aus der Salzgrube sichern den Ausbau des Schlosses im nahen Krakau und den Heeressold, garantieren schnell mehr als ein Drittel der staatlichen Einkünfte. Auf der anderen Seite sind sich, vier Jahrhunderte vor Solidarnosc, auch die Arbeiter ihrer Macht bewusst: Sie verlangen einen gerechteren Lohn, die Nachgeborenen erreichen streikend sogar ein Sozialfürsorgesystem.

Dass Wieliczka für mehr steht als das Merkantile und Mannhaftigkeit, verdankt es einem Unglück. 1697 bricht unter Tage ein Feuer aus. So ungewöhnlich sind Brände nicht: Beim Abbau des Steinsalzes bildet sich leicht entzündliches Methangas. Diesmal erwischt es eine jener prachtvollen Kapellen, die die Kumpel in den ausgebeuteten Kammern eingerichtet haben. Hölzerne Kruzifixe, ein hölzerner Altar, hölzerne Statuen: alles lodert. Dass das Feuer nicht übergreift, grenzt an ein Wunder. Die königliche Administration zieht Konsequenzen: Ab sofort ist es verboten, die Kapellen mit leicht brennbaren Elementen auszustatten. Auf religiöses Dekor wollen die Bergleute trotzdem nicht verzichten. Sie besinnen sich auf ihren ureigenen Werkstoff – die Salzbildhauerei ist geboren. Nach Absprache mit den Ingenieuren legen sie selbst Hand an, sehen sich als künstlerische Autodidakten. Die Bergwerksleitung wiederum erkennt den Wert der Salzkunst für den gerade weltweit keimenden Fremdenverkehr.


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mare No. 54

No. 54Februar / März 2006

Von Sabine Kobes und Mark Power

Sabine Kobes, Jahrgang 1960, ist Textchefin der Illustrierten Gala in Hamburg. Die südlichen Karpaten kannte sie seit einer Recherchereise in eigener Sache – ihre Vorfahren lebten in der heutigen Slowakei. Dass die Menschen nördlich des Gebirges allerdings noch viel katholischer sein würden, war da kaum zu ahnen.

Mark Power, Jahrgang 1959, lebt in London. Der Magnum-Fotograf ist zudem Dozent an der Universität Brighton.

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Vita Sabine Kobes, Jahrgang 1960, ist Textchefin der Illustrierten Gala in Hamburg. Die südlichen Karpaten kannte sie seit einer Recherchereise in eigener Sache – ihre Vorfahren lebten in der heutigen Slowakei. Dass die Menschen nördlich des Gebirges allerdings noch viel katholischer sein würden, war da kaum zu ahnen.

Mark Power, Jahrgang 1959, lebt in London. Der Magnum-Fotograf ist zudem Dozent an der Universität Brighton.
Person Von Sabine Kobes und Mark Power
Vita Sabine Kobes, Jahrgang 1960, ist Textchefin der Illustrierten Gala in Hamburg. Die südlichen Karpaten kannte sie seit einer Recherchereise in eigener Sache – ihre Vorfahren lebten in der heutigen Slowakei. Dass die Menschen nördlich des Gebirges allerdings noch viel katholischer sein würden, war da kaum zu ahnen.

Mark Power, Jahrgang 1959, lebt in London. Der Magnum-Fotograf ist zudem Dozent an der Universität Brighton.
Person Von Sabine Kobes und Mark Power