Kinder des Meeres

In diesem vietnamesischen Dorf kommt man auf dem Wasser zur Welt und geht kaum je an Land. Über ein Leben auf schwankenden Böden

Nie hupt ein Auto in Cua Van, nicht einmal ein Fahrrad klingelt hier, denn Straßen gibt es keine. Weder Bäume noch Wiesen. Auch keinen Fußballplatz. Ein Motorboot fährt drei Stunden von der Hafenstadt Hon Gai im Norden Vietnams Richtung Süden, vorbei an schroffen Kalkfelsen der Ha-Long-Bucht, bis hinter einer der Steininseln die türkisblau gestrichenen Hütten von Cua Van auftauchen. Von drei Seiten ist das Dorf von Felsen umgeben, die das Meer an dieser Stelle wie einen großen, geschützten Platz erscheinen lassen. Ein Platz des himmlischen Friedens.

Kurz vor sechs Uhr erwacht das Leben. Ruder klatschen ins Wasser, Hunde bellen, Kinder schreien, und aus einer Hütte schnarrt ein Radio.

Huy ist immer als Erste im Boot. Ihren blauen Schulranzen hat sie so verstaut, dass er nicht nass werden kann, dann packen ihre Hände die Ruder, und los geht’s. Die Hütte ihrer Eltern liegt so weit von der Schule entfernt am Rande des Dorfes, dass die Neunjährige länger braucht als ihre Schulkameraden. Schlag um Schlag rudert Hui über den „Dorfplatz“. Huong, die Lehrerin, putzt sich gerade die Zähne und spuckt ins Wasser. Ihre vier Kolleginnen haben auf einem Kohlefeuer den Tee aufgesetzt und sitzen schwatzend auf der Terrasse. Der Tag kann beginnen.

Immer mehr Kinder parken ihre kleinen Bambusbarken am Geländer der Schulhütte und rennen vor dem Unterricht mit dem Hund des Bürgermeisters um die Wette. Sechs Meter in die eine Richtung und sechs Meter wieder zurück. Es ist die längste Strecke, die es in Cua Van zu rennen gibt. Dann kommt wieder Wasser. Eine Hütte. Und wieder Wasser. Mitten im Meer haben die Bewohner ihre Behausungen aufgeschlagen, und sie sind auf ihre über Styroporballen und Plastikfässern errichteten kleinen Hütten stolz. Ihre Vorfahren lebten noch ausschließlich auf den Bambusbooten.

Nicht weit von der Schule klopft und hämmert es. Do Van Nhat erweitert sein Haus. Er legt einen Fußboden über das Wasser, die Seitenwände stehen schon, das Dach ist noch offen. In den Anbau werden in ein paar Tagen sein Sohn mit seiner Braut einziehen. „Heute Nachmittag um drei Uhr ist das Haus fertig“, sagt Do. Mit einem Handbohrer bohrt er Löcher in die Planken und nagelt Bretter darauf. Die neun Quadratmeter reichen für ein junges Paar, spätere Kinder inklusive. Es ist die 97. schwimmende Hütte, die hier entsteht. Das Dorf hat 768 Einwohner, und es wächst Jahr um Jahr. Macht acht Bewohner pro Hütte im Durchschnitt.

„Wir leben hier seit Generationen“, sagt der 52-jährige Do, während er Bohrer und Hammer beiseite legt und Tabakkrümel zu einer Zigarette rollt. Seine Vorfahren siedelten vom Land aufs Wasser, weil sie kein Land besaßen und fast verhungert wären. „Das Meer gehörte allen, und Fische gab es damals noch genug.“ Do löst eine breite Planke aus seiner Terrasse, darunter öffnet sich der Tresor der Familie. In einem Netz schwimmen zwei Dutzend große Fische. „Für ein Kilogramm Song-Fisch zahlen die Chinesen 200000 Dong.“ Das sind umgerechnet gerade elf Euro. Alle leben sie in Cua Van von der Zucht für die Chinesen: Sie füttern die jungen Fische ein halbes Jahr lang unter ihren Hütten, bis sie groß und dick geworden sind und der chinesische Händler kommt.

Ein Nachbar rudert heran. In Cua Van geht es zu wie bei deutschen Maurern: Pünktlich um halb zehn ist Frühstückszeit. Vor jeder Hütte sitzen die Familien auf der Terrasse und stäbeln Reis mit Fisch. Oder Fisch mit Reis. Abwechslung gibt es nur an Feiertagen und wenn der Fischhändler vorbeigetuckert war und etwas Geld für Gemüse übrig blieb.

Aber in diesen Tagen kommt er selten vorbei. Die Fangsaison war noch nie so schlecht wie in diesem Jahr. Viele Netze unter den Hütten sind leer, und manche Nacht bringt ein Fischer gerade zwei Kilogramm kleiner Fische aus dem Meer zurück. Wenn er Glück hat. Oft auch nichts. „Alle vier Jahre geht der Fang etwas zurück, und wir haben nun einmal das vierte Jahr“, erzählt der 92-jährige Nguyen Van Nuoi. „Aber so schlimm war es noch nie. Viele Familien haben ja nicht einmal mehr das Geld für das Futter ihrer Zuchtfische.“ 


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mare No. 49

No. 49April / Mai 2005

Von Philipp Maußhardt und Nicolas Cornet

Der Weinstädter Autor Philipp Maußhardt, Jahrgang 1958, und der Pariser Fotograf Nicolas Cornet, geboren 1963, beobachteten in der Ha-Long-Bucht des Öfteren Touristenschiffe, die aber nie am Dorf festmachten. „Zwar fotografierten die Reisenden mit Eifer“, sagt Maußhardt, „aber leider nahmen sie sich nie die Zeit – oder fanden sie nie den Mut –, mit den Bewohnern in Berührung zu kommen.“

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Vita Der Weinstädter Autor Philipp Maußhardt, Jahrgang 1958, und der Pariser Fotograf Nicolas Cornet, geboren 1963, beobachteten in der Ha-Long-Bucht des Öfteren Touristenschiffe, die aber nie am Dorf festmachten. „Zwar fotografierten die Reisenden mit Eifer“, sagt Maußhardt, „aber leider nahmen sie sich nie die Zeit – oder fanden sie nie den Mut –, mit den Bewohnern in Berührung zu kommen.“
Person Von Philipp Maußhardt und Nicolas Cornet
Vita Der Weinstädter Autor Philipp Maußhardt, Jahrgang 1958, und der Pariser Fotograf Nicolas Cornet, geboren 1963, beobachteten in der Ha-Long-Bucht des Öfteren Touristenschiffe, die aber nie am Dorf festmachten. „Zwar fotografierten die Reisenden mit Eifer“, sagt Maußhardt, „aber leider nahmen sie sich nie die Zeit – oder fanden sie nie den Mut –, mit den Bewohnern in Berührung zu kommen.“
Person Von Philipp Maußhardt und Nicolas Cornet