Kein Wunder

Chinas Schiffbau wurde auf staatliche Weisung in wenigen Jahren zum größten der Welt. Nur jede zehnte Werft wird die kommenden drei Jahre überleben. Die Geschichte eines Niedergangs

Vor fünf Jahren hatten wir die beste Zeit seit den Wikingern“, verblüffte der norwegische Reeder Tor Olav Trøim im vergangenen Jahr seine Zuhörer bei einer Tagung in Oslo. „Jetzt haben wir die schlimmste Zeit seit der Pest.“ Trøim gilt als die rechte Hand des norwegisch-zypriotischen Schiffsmagnaten John Fredriksen. Trøim weiß also, wovon er spricht, und seine Einschätzung ist gar nicht so übertrieben, wie sie klingt. Tatsächlich rafft die Krise der Schifffahrt mit erstaunlichem Tempo eine große Zahl von Unternehmen dahin. In keinem Land ist die Schiffbauindustrie so stark davon betroffen wie in China. Etwa 400 Werften gibt es dort zurzeit, die hochseetaugliche Schiffe bauen. Knapp 40 Prozent der Frachtkapazität aller Schiffe, die in den vergangenen drei Jahren weltweit ausgeliefert wurden, stammen aus ihrer Produktion. Von diesen 400 Werften werden nur etwa 30 die nächsten drei Jahre überstehen, schätzt der griechische Schiffsfinanzierer George Xiradakis. Dabei war der Schiffbau in China bis vor Kurzem so erfolgreich, dass er als Avantgarde des chinesischen Wirtschaftswunders gelten konnte – die Kavallerie gewissermaßen der chinesischen Nationalökonomie. Reitet der Schiffbau auch in seiner Krise dem Rest der chinesischen Volkswirtschaft voran? Was verraten Aufstieg und Fall des chinesischen Schiffbaus über die Gesamtwirtschaft im Land?

„Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir ein knappes Dutzend Werften an den Ufern des Tyne“, erzählt Tim Huxley. Der Chef der Hongkonger Reederei Wah Kwong Maritime Transport ist an dem Fluss im Nordosten Englands aufgewachsen. „Heute gibt es dort keine einzige mehr.“ Der Schiffbau ist nach Ostasien umgezogen. Lange besaß Japan die größte Werftindustrie der Welt, bis es überflügelt wurde von Südkorea. Ende der 1990er Jahre begann die beispiellose Expansion chinesischer Werften. Gegen Anfang des neuen Jahrtausends waren sie bereits so erfolgreich, dass der Staatsrat, das Kabinett also, 2004 kühn genug war, die Weisung auszugeben, der chinesische Schiffbau habe bis 2015 zum größten der Welt zu werden.

„Niemand nahm diesen Plan sonderlich ernst“, sagt Huxley. Schließlich war China nur wenige Jahre zuvor noch ein Niemand gewesen im internationalen Schiffbau. Der erste größere Auftrag aus dem Ausland kam 1986 von der Hamburger Reederei Hapag Lloyd; er war ein völliger Fehlschlag. Der Preis war niedrig, doch „das Schiff hatte lauter Macken. Auch kam es viel zu spät. Es dauerte eine Weile, bis Hapag Lloyd oder irgendeine andere große Reederei sich wieder nach China wagte“, so Huxley.

Pekings Plan, China innerhalb weniger Jahre zur größten Schiffbaunation der Welt zu machen, schien verrückt. Verrückter noch war, dass er gelang, und zwar schon fünf Jahre vor dem Termin. Zwischen 2003 und 2010 wuchs das Liefervolumen aus chinesischen Werften um nahezu 800 Prozent. 2010 produzierte Chinas Schiffbauindustrie mehr Frachtkapazität als die irgendeines anderen Landes. Man braucht kein Fachmann zu sein, um zu ahnen, dass ein solches Wachstum ruinöse Folgen haben kann. Eine Inflation des Geldes bedeutet schließlich, dass das Geld nichts mehr wert ist; bei einer Inflation der Schiffe sind die Schiffe nichts mehr wert. Der schier unglaubliche Erfolg staatlicher Planer, die ihre eigenen Zielvorgaben übertrafen, war in Wirklichkeit ein Scheinerfolg, der nur um den Preis der Nachhaltigkeit zu erzielen war. Diese Wachstumsstrategie ist nicht untypisch für das gesamte chinesische Wirtschaftswunder. Was sie im Einzelnen bedeutet, das zeigt der Fall des Schiffbaus.

Der Beschluss des Staatsrats 2004 fiel zeitlich zusammen mit einem außerordentlichen Anstieg der Preise für Schiffe und für Frachtgebühren, verursacht zum großen Teil durch Chinas rasch steigenden Bedarf an Rohstoffimporten. So konnten Reeder nun plötzlich Charter von 150 000 Dollar und mehr für ein eher einfaches Schiff wie einen Erzfrachter verlangen – je Tag. Große Capesize-Massengutfrachter, sagt Huxley, konnte man auf dem Höhepunkt des Werftenbooms, kurz vor dem Crash 2011/2012, sogar zum Rekordpreis von 300 000 Dollar am Tag verchartern. Ein solches Schiff bauen zu lassen kostete damals etwa 90 Millionen Dollar, so Huxley. Nach gut zehn Monaten hatte sich der Frachter amortisiert. Jetzt aber gibt es viel zu viele Schiffe, die viel zu wenigen Frachten nachjagen. „Heute können Sie ein Schiff für 5000 Dollar je Tag verchartern“, sagt Huxley. „Vielleicht. Wenn Sie Glück haben.“ Das ist ein Sechzigstel des Ausgangspreises. Es wür- de also unter den gegenwärtigen Bedingungen 50 Jahre dauern, bis das Schiff sich bezahlt hat. ➣ Das ist arg für die Reeder. Es ist auch schlimm für die Werften. Unter diesen Bedingungen kauft kein Mensch ein Schiff.

Das Ergebnis ist eine der tiefsten Krisen, die die Schifffahrtsbranche weltweit je erlebt hat. Das Tempo des Aufstiegs der chinesischen Werften ist ein Paradefall für den Wirtschaftsboom in China. Und die Mittel, die diesen Erfolg ermöglicht haben, sind charakteristisch für den chinesischen Stil des Kapitalismus, der in den vergangenen Jahren unverwundbar schien. Jetzt stürzen die Werften über die Schwächen dieses Systems.


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mare No. 95

No. 95Dezember 2012 / Januar 2013

Von Justus Krüger und André Eichman

Autor Justus Krüger, geboren 1974, lebt auf einer Insel bei Hongkong und redet sich gerne ein, sein Häuschen hinter der Hafenmole sei eigentlich ein Hausboot. Der US-amerikanische Fotograf André Eichman zog 1990 nach Hongkong. Seither begleitet er den Wandel Chinas mit der Kamera, unter anderem für die Sunday Times und das Royal Geographic Magazine.

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Vita Autor Justus Krüger, geboren 1974, lebt auf einer Insel bei Hongkong und redet sich gerne ein, sein Häuschen hinter der Hafenmole sei eigentlich ein Hausboot. Der US-amerikanische Fotograf André Eichman zog 1990 nach Hongkong. Seither begleitet er den Wandel Chinas mit der Kamera, unter anderem für die Sunday Times und das Royal Geographic Magazine.
Person Von Justus Krüger und André Eichman
Vita Autor Justus Krüger, geboren 1974, lebt auf einer Insel bei Hongkong und redet sich gerne ein, sein Häuschen hinter der Hafenmole sei eigentlich ein Hausboot. Der US-amerikanische Fotograf André Eichman zog 1990 nach Hongkong. Seither begleitet er den Wandel Chinas mit der Kamera, unter anderem für die Sunday Times und das Royal Geographic Magazine.
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