Kapitän in Ketten

Das ukrainische Segelschulschiff „Druschba“ ist ein Symbol seiner Heimat: Es steckt seit fünf Jahren fest

Er blickt nicht mehr in die Ferne. Wenn Kapitän Konstantin Kremljanski an Deck der „Druschba“ steht, dann sieht er nicht zum Himmel auf, weil er nichts von ihm erwartet. Kein mit dem Meer verschmelzendes Violett, keine blaue Grenzenlosigkeit, keine lodernden Horizonte. Keine Spur von jenen Wundern, die selbst der hochverehrte Iwan Konstantinowitsch Aiwasowski nicht einzufangen vermochte, Marinemaler unter Zar Nikolaus I. Kein Himmel, der mal aus Eis geschnitten scheint und mal aus schwarzem Brokat. Kein Meer, das atmet und schreit und tobt und dann wieder stumm und glänzend daliegt wie ein Silbertablett. Das hier, das ist nicht das Meer. Das ist Spülwasser. Spülwasser mit Fettaugen.

Graublaue Stahlkadaver harren auf ihr Ende, die Luft riecht nach Diesel, und auf dem Kai verrotten Minensuchboote. Unter abgetakelten Küstenwachschiffen sammeln sich rostige Pfützen. Odessas Militärhafen, einst Stolz der Schwarzmeerflotte, ist ein Schiffsfriedhof. Hier liegt die „Druschba“ lebendig begraben. Seit fünf Jahren hat das Segelschulschiff der Marine-akademie von Odessa den Hafen nicht mehr verlassen.

„Druschba“ heißt Freundschaft, der kyrillische Namenszug ist mit Girlanden verziert. Es ist einer jener Windjammer, bei dessen Anblick man sehnsüchtig wird und denkt: Schanghai. Singapur. Sansibar. Plötzlich ist man wieder ein Kind, das von fernen Welten träumt und von Kapitänen, die von einer Reise in die Südsee mit einem Äffchen auf der Schulter zurückkehren. Kapitän Kremljanskis Onkel Kostja kehrte tatsächlich einmal so von einer Reise zurück. Und dann fand er seine Frau mit einem Liebhaber im Bett. Der Liebhaber war Offizier und entkam durch einen Sprung aus dem Fenster, wobei er seine Pistole verlor – die Onkel Kostja ergriff, seine Frau tötete und sich schließlich selbst in den Kopf schoss.

Und das ist nur eine Episode der Familiengeschichte – Konstantin Kremljanski ist Kapitän in der zehnten Generation. In seiner Familie gab es Helden und Märtyrer, Träumer und Utopisten – die alle für das Meer gelebt haben. Im Marinemuseum von Odessa war nicht nur den aufständischen Matrosen vom Panzerkreuzer Potemkin eine ganze Abteilung gewidmet, sondern auch den furchtlosen Kremljanskis. Bis das Museum abbrannte. Die letzten, vom Löschwasser durchtränkten Ausstellungsstücke verrotteten auf der Wiese hinter dem Museum. So ist das heute mit Odessa und der Marine. Selbst die von Sergej Eisenstein in seinem Film verewigte Potemkintreppe endet nicht mehr im Meer, sondern in einer Umgehungsstraße.

Früher gab es in der Stadt 20 000 Seeleute, jede dritte Familie lebte von der Schifffahrt. Heute gibt es nur noch 200 Crewcompanies. „Und davon sind die Hälfte Betrüger“, sagt Kremljanski. „Was ist Odessa ohne Schiffe?“, fragt er. Die Seele weint.

Odessa, das sind pockennarbige Fassaden klassizistischer Paläste, Belle-Époque-Nymphen, Atlanten und orthodoxe Zwiebeltürme. Und der Duft von Akazienbäumen. Mama Odessa. Entweder du liebst sie. Oder. Odessa ist keine Stadt, sondern ein Glaubensbekenntnis. Kapitän Kremljanski verzeiht seiner Stadt selbst die Löcher in den Bürgersteigen, die so tief sind, dass man darin verschwinden kann. Odessa ist ein Fabelwesen, auferstanden in den Farben der Zarentöchter, Russischgrün, Schmetterlingsgelb, Fliederblau.

Der Kapitän lebt mit seiner dritten Ehefrau und seinem ersten Hund, einem Labrador, in einer typischen Odessiter Zimmerflucht mitten in der Stadt. Mit hohen, stuckverzierten Decken, Geranien auf dem Fensterbrett, nagelneuen Kieferntüren und Reisesouvenirs – afrikanische Masken, japanische Geishapuppen, eine beleuchtbare venezianische Gondel. Und mit Bildern von Segelschiffen: als Holografie, als Foto, als Holzschnitt. Er liebt seine Wohnung. Aber.
„Ich bin ein Rennpferd, das im Stall steht“, sagt Kremljanski. „Ich bin ein Hund, der an der Kette liegt.“


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mare No. 64

No. 64Oktober / November 2007

Von Petra Reski und Maurice Weiss

Petra Reski, 1958 in Unna geboren, lebt als freie Journalistin in Venedig.

Der Fotograf Maurice Weiss, Jahrgang 1965, lebt in Berlin.

Die Reporter machten es besser als Bill Gates: Sie kannten die ukrainische Etikette und brachten vorsorglich ihre Gastgeschenke von zu Hause mit – edle Parfums für die Dame.

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Vita Petra Reski, 1958 in Unna geboren, lebt als freie Journalistin in Venedig.

Der Fotograf Maurice Weiss, Jahrgang 1965, lebt in Berlin.

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Person Von Petra Reski und Maurice Weiss
Vita Petra Reski, 1958 in Unna geboren, lebt als freie Journalistin in Venedig.

Der Fotograf Maurice Weiss, Jahrgang 1965, lebt in Berlin.

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