Jenseits der Delikatesse

Erlebnisse eines Chefkochs mit der Jakobsmuschel

Es war kurz nach zwei Uhr, als ich an der Route National zwischen Epinal und Nancy, unweit des Jakob-Pilgerpfades, eine mit Werbung wild verschandelte Fernfahrerkneipe betrat. Dichter Qualm, verwüstete Tische, das „non fumeur“ an den teerigen Wänden war kaum zu erkennen. Die Stammgäste hatten den Futterplatz bereits verlassen. Auf den Tischen deuteten herumliegende Rotweinflaschen auf eine gewaltig abgefeierte Fresserei. Ich nahm Platz und räumte erst einmal verstreute Pommes zur Seite. Die Bedienung mit verwegen kurzem Rock und breiter Laufmasche bis in den Absatz legte eine neue Papiertischdecke auf und warf die mit Plastikfolie gesicherten „Suggestion du Patron“ zwischen das Blechbesteck. Es war die übliche Kollektion, die ein hungriger „Routier“ braucht, um als Cowboy der Landstraße durchzuhalten. „Steak Frites“ in einigen Variationen, und – kaum zu glauben – Coquilles Saint Jacques, Jakobsmuscheln.

Zuversichtlich im Glauben an die „Grande Nation Gourmande“ bestellte ich letztere als Vorspeise. Viel zu schnell, um keinen Verdacht zu erregen, kamen zwei gefüllte „Shells“, wie man sie vom gleichnamigen Mineralölkonzern kennt. Meine hatten allerdings eine Designschwäche. In den Muschelschalen blubberte ein verkokeltes Bechamel-Käse-Magma. Kochkunst kommt nicht nur von Kunst, sondern auch von Kochen, was je nach Meereshöhe annähernd an die hundert Grad rankommt. So heiß mag es allerdings die Jakobsmuschel nicht, schon gar nicht, wenn – wie in meinem Fall – eine wutentbrannte Grillschlange die Mollusken zum Glühen gebracht hat. Daran wollte ich mir nun doch nicht mein Maul verbrennen. Mit schlimmen Ahnungen stocherte ich zögernd. Eile jedoch war nicht geboten, denn mein Gericht war bereits jenseits der Delikatesse, wenn es je eine war. Fische zerfallen bei zuviel Hitze, Muscheln jedoch versteinern und sperren sich dem Gebiss, als wäre man am Autoreifen einspeicheln.

Unter Hocherhitzung werden Jakobsmuscheln ungenießbar, deshalb fand ich in alten Kochbüchern nie ein Rezept. Mangels Kühlmöglichkeiten wurde Fleisch, Fisch und so weiter immer gut durchgekocht. Kein Wunder, dass unsere Altvordern in vergangenen, längst nicht so guten Zeiten Muscheln nur als Trinkgefäß verwendet hatten. Die Muschelschalen, welche die Jakobspilger auf dem Rückweg von Santiago de Compostela mit sich führten, lieferten auch den Beweis, dass die lange Reise wirklich stattfand, ähnlich den heutigen Schweizer Autobahnvignetten, den TÜV-Plaketten des ersten Fernreisetourismus. Wer kommt schon auf die Idee, angesichts unzähliger Shell-Tankstellen an Essbares zu denken. Mittlerweile ist die Jakobsmuschel ein kulinarisches Modeaccessoire, das wir gerne hinnehmen, wenn die Qualität stimmt. Für ernsthafte Kulinarik kommen keine Fälschungen in Betracht, wie beispielsweise ausgestanzte Seeteufelsmedaillons. Gute Küche bedient sich an Ware der südlichen Strände Schottlands, auch von der spanischen Küste und von den Gewässern der Bretagne. Im Mittelmeer sind die Jakobsmuscheln infolge Überfischung bereits selten geworden.

Coquilles Saint Jacques sind die beweglichsten aller Muscheln. Durch ruckartiges Öffnen und Schließen der ungleichen Muschelschalen katapultiert sich das Tier nach vorn. Zu dieser Art Sportlichkeit braucht es eine athletische Verfassung. Jakobsmuscheln verfügen deshalb über einen überdimensionalen Schließmuskel, einen weißlich bis graubraunen Zylinder mit dem Durchmesser eines Fünfmarkstücks. Genau um diesen Teil geht’s. Auch die Keimdrüsen schmecken gut, jedoch nur dann, wenn die Muschel nicht länger als zwei, drei Tage transportiert wurde.


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mare No. 2

No. 2Juni / Juli 1997

Von Vincent Klink

Vincent Klink ist Chefkoch des Stuttgarter Restaurants Wielandshöhe

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Person Von Vincent Klink
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